Veröffentlicht am 13. Oktober 2021

Inklusion

"Keine Mutter ist darauf vorbereitet"

Kolumne

Tim, Jahrgang 2016, liebt Puzzles und billige Nussmischungen. Er ist mit einem Hirnschaden zur Welt gekommen und braucht zur Fortbewegung einen Rollstuhl oder Rollator. Seine Mutter Iris Mydlach, Redakteurin beim Hamburger Abendblatt, schreibt für Rainbow World über ihre Erfahrungen als Mutter eines Kindes mit Behinderung.

Kolumnistin Iris Mydlach und ihr Sohn Tim
Unsere Kolumnistin Iris Mydlach und ihr Sohn Tim

Neulich hatte ich die Idee zu einer neuen Netflix-Serie: Es würde um ein Paar gehen, beide jung und verliebt, vielleicht ein Mann und ein Mann oder eine Frau, vielleicht eine Frau und eine Frau, auf jeden Fall sind sie werdende Eltern. Und durch irgendeinen seltsamen Twist treibt es die beiden zu Beginn der Serie vor ein Orakel, das mit finsterer Stimme spricht: „Einer von euch dreien wird in fünf Jahren im Rollstuhl sitzen. Es liegt an euch zu entscheiden – wer?“

Kein schlechter Start für einen Plot, finde ich.
Denn die Antwort liegt nicht wirklich auf der Hand. Bin ich es, bist du es, trifft es dein Kind?

Tja, gute Frage. Für mich selber kann ich sagen, dass ich sie vor fünf Jahren völlig anders beantwortet hätte als heute. 

Vor fünf Jahren wären mir wahrscheinlich eiskalte Schauer über den Rücken gelaufen bei der Vorstellung, ein Kind zur Welt zu bringen, das nicht so sein würde wie die anderen. Ein Frühchen mit Hirnschaden, es hätte mich schlichtweg überfordert. Es hat mich auch überfordert. Ich wollte die Schläuche nicht sehen und die Beatmungsmaske auf diesem winzigen Gesicht. Ich wollte das Piepen der Alarme nicht hören, wenn mal wieder eines der Babys in den Brutkästen aufgehört hatte zu atmen. Hoffentlich nicht meins – ich glaube das war, was jede von uns Müttern im Raum damals dachte.

Vielleicht ist das der Gedanke, der unseren Umgang mit dem Thema Behinderung bis heute am besten zusammenfasst. Hoffentlich nicht meins. Aber warum ist das eigentlich so? Warum haben wir so eine Angst davor, ein Kind mit einer Behinderung auf die Welt zu bringen?

Blicke voller Sorge und Angst

Ich habe bislang keine Antwort auf diese Frage gefunden, höchstens ein paar Puzzleteile. Dass es irgendetwas ganz tief in uns ist, das auch heute nicht will, dass es so etwas wie Behinderungen gibt – weil es Schwäche und Hilflosigkeit bedeutet. Dass so viele Gendefekte noch immer nicht erforscht sind. Und dass natürlich keine Mutter glücklich damit ist, die Wochen nach der Geburt auf einer Intensivstation zu verbringen. Es stimmt, das ist wirklich nicht schön. Auf der anderen Seite hat es mich auch geprägt. Ich bin zu einem aufmerksameren Menschen geworden. Es war meine Therapeutin, die mich damals fragte, was Tim in meinen Augen lesen könne, wenn ich ihn ansehe, und ich wusste sofort, was sie meinte. Denn aus meinen Blicken voller Sorge und Angst konnte er eigentlich nur einen Schluss ziehen: dass irgendwas mit ihm nicht stimmte. Dass er mir womöglich...so nicht reichte? Das hatte gesessen. Und dann sagte sie, dass behinderte Kinder überhaupt ein großes Glück seien. Ich antwortete, dass es komisch sei, dass es dafür gar keine Glückwunschkarten gebe.

Tim ist inzwischen fünf Jahre alt. Er liebt Puzzles, die Mumins, billige Nussmischungen und lange Autofahrten, was ein Segen ist, weil er noch immer so viele Termine hat, bei Ärzt:innen, Gutachter:innen, Physiotherapeut:innen. Und natürlich würde ich ihm das gern ersparen. Und auch das Mitleid in den Blicken, die Kämpfe mit der Krankenkasse um dringend benötigte Hilfsmittel, die sicher immer gut gemeinten Ratschläge. Ich wünsche mir so sehr eine Welt, in der nicht groß kommentiert werden müsste, dass ein Kind anders ist als die anderen.

Tim hat seine eigene Norm

Im Moment sehe ich, wie unendlich cool Tim über das hinweggeht, was vielleicht in diesem Moment die Norm gewesen wäre. Er hat seine eigene. Ich sehe, wie er in seinem Rollstuhl durch die Welt stromert, auf der Suche nach Freund:innen und Gleichgesinnten. Warum sollte er diesen Rollstuhl nicht einfach behalten?

Ich habe vieles von Tim gelernt in den vergangenen Jahren. Über mich selbst, über das, was dieser Welt noch fehlt, um Menschen mit Behinderung auf Augenhöhe zu begegnen. Die wichtigste Erkenntnis: Ist alles eigentlich gar nicht so schwer. Nur trotzdem ist da ja noch das Orakel und die Frage, auf wen die Wahl am Ende fällt.

Ich weiß es noch nicht. Aber ich bin neugierig, es an dieser Stelle herauszufinden.

 

Über Tims Behinderung

Infantile Zerebralparese, kurz: CP nennen es die Ärzte, wenn Kinder vor oder während der Geburt an Sauerstoffmangel leiden – ein kleines oder großes Handgepäck, je nachdem, wie groß der Schaden im Gehirn ist und welche Areale betroffen sind. Von einer leichten Lese-Rechtschreibschwäche bis hin zur mehrfachen Schwerstbehinderung ist alles möglich. Vorhersehbar ist die Entwicklung der Kinder in den seltensten Fällen. Bildlich vorstellen kann man sich da so: Das Gehirn sendet Informationen an die entsprechenden Körperteile („Beine, bitte laufen!“) – die gehorchen aber nur bedingt. Weil oft auch Einschränkungen der Sprache mit der Behinderung einhergehen, werden diese Kinder schnell von Erzieher:innen oder später Lehrer:innen abgeschrieben, obwohl sie alles mitbekommen. Diese frühkindlichen Erfahrungen prägen die Kinder oft ein Leben lang. Als besonders eindrucksvoll gilt die Geschichte des von CP betroffenen irischen Schriftstellers Christy Brown, der mit 18 Jahren zu sprechen begann und mit seinem linken Fuß schreiben lernte, weil es das einzige Körperteil war, das sich verlässlich ansteuern ließ.
 
Bei Tim betrifft die Cerebralparese vor allem die Motorik und seinen Gleichgewichtssinn. Er kann nicht ohne Hilfsmittel krabbeln oder laufen, alleine sitzen geht von Tag zu Tag besser. Kognitiv ist er dafür weniger betroffen. Er spricht, singt, flucht, nörgelt und bejubelt jedes Tor seines FC St. Pauli.


Text: Iris Mydlach