Veröffentlicht am 2. Juni 2022
Fluch und Segen: Serien-Trend Autismus
„As we see it “, „The good doctor”, „Liebe im Spektrum“, “Atypical” – gleich in mehreren aktuellen Serien dreht sich alles um Autist:innen. Ob die Wunderkind-Chirurgen-Story oder das Dating-Game mit Hindernissen – Autismus ist zum absoluten Serien-Trend-Thema avanciert. Ist das gut oder schlecht?
Völlig neu ist das Topic nicht: Wir erinnern uns an Dustin Hoffman in Rain Man oder Leonardo di Caprio in Gilpert Grape. autismus Deutschland e.V., der Bundesverband zur Förderung von Menschen mit Autismus, hat hierzu eine beeindruckende Liste vieler Filme und Serien zusammengestellt: Link zur Liste. Dennoch: So geballte Serien-Power wie heute hatte Autismus noch nie.
Man möchte meinen, es sei ausschließlich positiv zu werten, dass Autismus durch coole Serien auf den gängigen Streaming-Plattformen einer breiten Öffentlichkeit nähergebracht wird. Mehr Infos gleich mehr Verständnis, Gräben schließen, Brücken bauen und so weiter. Sichtbarkeit ist doch gut! Aber nicht um jeden Preis. Im Netz sind die Reaktionen gespalten. Einige Betroffene kritisieren, dass Autist:innen in den Serien-Formaten verkindlicht, verniedlicht gezeigt werden. Andere finden, dass die heroisierende Darstellung von Autist:innen mit besonderen Inselbegabungen der Ernsthaftigkeit der Behinderung nicht gerecht wird. Und genau das ist der Knackpunkt: Autismus wird auch Spektrum genannt, weil er sich eben in vielen Facetten zeigt – von einer leichten Beeinträchtigung im sozialen Umgang, über außergewöhnliche Fähigkeiten bis hin zu Menschen, die nicht sprechen können, schlimmste Ängste haben oder sich aus Verzweiflung selbst verletzen. Menschen für die ein eigenständiges Leben unmöglich ist. Das heißt: Die Darstellung individueller autistischen Charaktere ist nicht per se falsch, kann aber eben nicht stellvertretend für alle anderen Autist:innen stehen.
Auch beschränken sich die Serienmacher bei der Ausgestaltung der Charaktere meist auf klassische Symptome des Autismus, die der Komplexität der Behinderung nicht gerecht wird. „Hinzu kommt, dass Autismus häufig an weitere Erkrankungen gekoppelt ist bzw. symptomatische Schnittmengen mit anderen Erkrankungen oder Behinderungen hat: Despressionen, Psychosen, Narzissmus, Borderline, Zwangs- oder Ticstörungen, Intelligenzminderung, Epilepsie und so weiter. Es gibt Autist:innen, die herausragende Fähigkeiten besitzen, andere haben massive Schwierigkeiten im Zugang zur Welt“, erklärt Fabian Diekmann, Fachreferent von autismus Deutschland e.V.. „Dadurch dass diese Serien meist nur eine:n Autist:in zeigen, wird die Behinderung stark verzerrt dargestellt.“
Er bezieht sich zum Beispiel auf „The Good Doctor“. Die Serie dreht sich um einen jungen Mann, der dank und trotz Autismus ein außergewöhnlicher Chirurg ist. „Autismus ist so wahnsinnig vielschichtig, dass es eine kaum lösbare Aufgabe ist, sie im Sinne der Betroffenen als Serie aufzubereiten“, so Fabian Diekmann. Zu empfehlen sei z.B. die Serie „As we see it“ – allein schon deshalb weil nicht nur ein:e Autist:in in ihrem Zentrum steht, sondern mehrere: die Bewohner:innen einer betreuten WG, deren Autismus sich auf unterschiedliche Weise zeigt. Auch den Dokumentarfilm „Ihr Name ist Sabine“ von 2007, in dem Regisseurin Sandrine Bonnaire ihre autistische Schwester porträtiert, legt der Bundesverband Interessierten ans Herz. Ein weiterer Klick-Tipp des Autismus-Experten: der Youtube-Channel von „Andreas von Aspergistan“, der eine Vielzahl an Beiträgen gesammelt hat.
„Trotz aller Kritik wollen wir den Serien-Trend um das Thema Autismus absolut nicht verteufeln. Er hilft der Entstigmatisierung und kann dabei helfen, Menschen mit Autismus aus dem Abseits in die Mitte der Gesellschaft zu holen. Filme und Serien können Ängste nehmen und mehr Verständnis und Toleranz für Betroffene bringen“, so Fabian Diekmann. „Man sollte nur eben wissen, dass in fast all diesen Serien ein bisschen Wahrheit und auch ein bisschen Quatsch steckt.“ Grundsätzlich begrüße der Bundesbverband die Aufmerksamkeit, die der Behinderung durch Serien und Filme zuteil kommt. Sichtbarkeit sei von immenser Wichtigkeit – in Sachen Aufklärung und zur Identifikation. Auch wenn letztere auch wieder kontraproduktiv sein kann. Und damit spricht Diekmann einen weiteren kritischen Punkt an, der mit Autismus-Serien und -Filmen einhergeht: „Es ist geradezu cool geworden, Autist zu sein. Spätestens seit der Serie ‚Big Bang Theory‘ ist ‚Nerd‘ kein Schimpfwort mehr. Autismus jedoch ist eine ernstzunehmende Behinderung. Die zunehmende Anzahl von Menschen, die meinen, ihre kleineren oder größeren Schrulligkeiten und Marotten mit der Diagnose Autismus erklären zu müssen und dadurch zu einer Art Trittbrettfahrer auf dem Zug der originellen Menschen werden, ist kritisch zu betrachten. Vor allem, weil sie die Zugangswege zur Diagnostik verstopfen und denjenigen, die wirklich professionelle Hilfe benötigen, um mit Autismus gut leben zu können, den Zugang zu Therapeut:innen und individueller Unterstützung erschweren.“
Eine Anfrage zum Mitwirken an einem TV-Format, das an „Bauer sucht Frau“ erinnerte, habe man seitens des Bundesverbands vor kurzem abgelehnt. „Das Risiko, dass so etwas nach hinten losgeht, ist uns zu groß. Wir wünschen uns vor allem mehr Fingerspitzengefühl und Bereitschaft, sich differenziert in unsere Thematik einzufinden, die zugegebenermaßen nicht einfach zu erfassen und darzustellen ist.“ Kurzum: weniger pauschalisieren und nicht das eine oder andere Ende der Fahnenstange herauspicken, sondern Autismus zeigen wie er ist – als Spektrum mit tausend Gesichtern.
Text: Anna Hesse