Rainbow Check

Wie bunt ist der Koalitionsvertrag?

Politik

Mit 395 von 707 Stimmen wurde Olaf Scholz zum Bundeskanzler gewählt, er führt damit die erste Ampelkoalition auf Bundesebene an. Erinnert man sich an die zähen, dann gescheiterten, dann wieder zähen Koalitionsverhandlungen nach der Bundestagswahl von 2017, konnte diese Runde zwischen SPD, Grünen und FDP fast schon harmonisch erscheinen. Schon im Vorfeld der Wahl war zu ahnen, dass diese Koalition, wenn sie zustande kommt, einen deutlich progressiveren gesellschaftspolitischen Kurs fahren könnte als die vorherige Regierung. Was ist davon übrig geblieben? Der Ampel-Koalitionsvertrag im Rainbow Check.

Die neue Bundesregierung steht: Kanzler Olaf Scholz und seine Minister:innen erhalten von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier ihre Ernennungsurkunden. Foto: Getty Images

Die neue Regierung ist vereidigt, Olaf Scholz führt ein Kabinett aus Mitgliedern von SPD, Grünen und FDP. Basis ihrer künftigen Arbeit ist der Koalitionsvertrag, den die drei Parteien in den Wochen nach der Bundestagswahl verhandelt haben. Wobei man klarstellen muss: Ein Koalitionsvertrag ist gar kein Vertrag. Er ist nicht rechtlich bindend, seine Inhalte können nicht eingeklagt werden. Ein Koalitionsvertrag hält lediglich fest, auf Basis welcher Vorhaben zwei oder mehr Parteien eine gemeinsame Regierung bilden wollen. Insofern wäre der Begriff Koalitions-Absichtserklärung treffender, wenn auch zugegebenermaßen etwas sperrig.

Beim nun vorliegenden Ampel-Koalitionsvertrag (PDF) stellt sich ein weiteres Problem: Die neue Regierung nimmt ihre Arbeit in einer äußerst schwierigen Zeit auf. Die Corona-Pandemie hat das Land voll im Griff, die Ampel wird in den kommenden Monaten mit Krisen-Management beschäftigt sein und entsprechend weniger Zeit für gesellschaftliche Weichenstellungen haben. Dies dämpft die Erwartungen an das Tempo, mit dem die durchaus vielversprechenden Vorhaben der Koalition umgesetzt werden können.

Dennoch: Die Vorhaben der neuen Ampelregierung sind massiv. Deshalb beziehen wir uns hier sogar nur auf die wichtigsten.
 

LGBTQ-Rechte

"Wir werden das Transsexuellengesetz abschaffen und durch ein Selbstbestimmungsgesetz ersetzen. Dazu gehören ein Verfahren beim Standesamt, das Änderungen des Geschlechtseintrags im Personenstand grundsätzlich per Selbstauskunft möglich macht (...)“ (Koalitionsvertrag, S. 119)

Dieses Vorhaben hatte Olaf Scholz bereits in einer TV-Diskussion vor der Wahl angekündigt: Trans-Menschen soll es ermöglicht werden, ihre Geschlechtszuweisung beim Standesamt ändern zu lassen, ohne dafür einen von vielen als diskriminierend empfundenen – und von Scholz in besagter TV-Diskussion auch so bezeichneten – Prozess einschließlich übergriffiger Fragen über sich ergehen lassen zu müssen. Kurz: Welchem Geschlecht eine Person angehört, soll sie bald selbst entscheiden, und nicht ein Gericht.

 

„Die Kosten geschlechtsangleichender Behandlungen müssen vollständig von der GKV übernommen werden. Wir werden im Gesetz zum Schutz von Kindern mit Varianten der Geschlechtsentwicklung Umgehungsmöglichkeiten beseitigen. Für Trans- und Inter-Personen, die aufgrund früherer Gesetzgebung von Körperverletzungen oder Zwangsscheidungen betroffen sind, richten wir einen Entschädigungsfonds ein.“ (S. 119)

Dass die gesetzliche Krankenversicherung künftig die Kosten für geschlechtsangleichende Behandlungen übernehmen soll, wird vielen Trans-Menschen überhaupt erst das Leben ermöglichen, das sie sich wünschen: Geschlechtsangleichende Operationen sind teuer und viele können sie sich schlicht nicht leisten. Ein starkes Signal geht auch von dem Vorhaben auf, Opfer von früheren Gesetzen zu entschädigen.

 

„Wir werden die Strafausnahmen in § 5 Abs. 2 des Gesetzes zum Schutz vor Konversionsbehandlungen aufheben und ein vollständiges Verbot auch von Konversionsbehandlungen an Erwachsenen prüfen. Das Blutspendeverbot für Männer, die Sex mit Männern haben, sowie für Trans-Personen schaffen wir ab, nötigenfalls auch gesetzlich.“ (S. 119)

Das angesprochene Blutspendeverbot war diskriminierend, seine Abschaffung längst überfällig. Der Europäische Gerichtshof hat schon 2015 entschieden, dass der generelle Ausschluss bestimmter Personengruppen unzulässig ist und Personen erst individuell befragt werden müssen, bevor sie wegen ihres Sexualverhaltens von der Blutspende ausgeschlossen werden. Hintergrund des Blutspendeverbots für Männer, die Sex mit Männern haben, war die Angst vor HIV-kontaminierten Blutspenden. Ausschlaggebend für die Wahrscheinlichkeit einer HIV-Infektion ist jedoch nicht die Wahl des/der Sexualpartner:in, sondern ob Sex geschützt stattfindet oder nicht.

Konversionsbehandlungen sind nicht nur diskriminierend, sondern auch Scharlatanerie. Dass sie verboten werden sollen, ist ein positives Signal. Einzig die Formulierung, dass das generelle Verbot lediglich geprüft werden soll, erscheint angesichts des gesellschaftlichen Konsens und der wissenschaftlichen Faktenlage schwach: Konversionstherapien machen aus homosexuellen keine heterosexuellen Menschen, dies ist auch gar nicht gewünscht und solche Behandlungen können großen Schaden anrichten. Bereits 2019 hatte der Bundestag einem von Gesundheitsminister Jens Spahn vorgeschlagenen Verbot von Konversionstherapien an Minderjährigen zugestimmt.

 

Ethnische Gleichstellung

„Wir schaffen ein modernes Staatsangehörigkeitsrecht. Dafür werden wir die Mehrfachstaatsangehörigkeit ermöglichen und den Weg zum Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit vereinfachen. Eine Einbürgerung soll in der Regel nach fünf Jahren möglich sein, bei besonderen Integrationsleistungen nach drei Jahren.“ (S. 118)

Die doppelte Staatsangehörigkeit war bislang ein Thema, das deutsche Politiker:innen eher gemieden haben. Mit wenigen Ausnahmen mussten Menschen, die die deutsche Staatsbürgerschaft erwerben wollten, ihre bisherige aufgeben. Dieses Prinzip wird nun aufgegeben. Mehr noch: Kinder sollen ab Geburt die deutsche Staatsbürgerschaft bekommen, wenn ein Elternteil bereits seit fünf Jahren in Deutschland lebt.

 

Religionsfreiheit

„Wir entwickeln das Religionsverfassungsrecht im Sinne des kooperativen Trennungsmodells weiter und verbessern so die Beteiligung und Repräsentanz der Religionsgemeinschaften, insbesondere muslimischer Gemeinden. (...) (S. 111)

Das „kooperative Trennungsmodell“ besagt, dass Staat und Kirche zwar klar getrennt sind, allerdings nimmt der Staat Rücksicht auf Kirchen und arbeitet teils mit ihnen zusammen, etwa bei der Einziehung der Kirchensteuer oder der Rücksichtnahme auf christliche Feiertage. Nun wird die deutsche Bevölkerung allerdings immer diverser, auf etwa 47 Millionen Mitglieder der christlichen Kirchen kommen 4,7 Millionen Muslim:innen, 200.000 Jüd:innen und Mitglieder anderer Religionen. Etwa ein Drittel der deutschen Bevölkerung ist konfessionslos. Die Ampel nimmt sich also vor, den Umgang zwischen Staat und Kirche der gesellschaftlichen Wirklichkeit anzupassen, wobei konkrete Maßnahmen bisher nicht genannt werden. Immerhin: Man ist sich der Situation bewusst.

 

„Neuere, progressive und in Deutschland beheimatete islamische Gemeinschaften binden wir in diesen Prozess ein. Wir bauen die Ausbildungsprogramme für Imaminnen und Imame an deutschen Universitäten in Zusammenarbeit mit den Ländern aus.“ (S. 111)

Ganz klar möchte die neue Regierung mehr Einfluss auf muslimische Organisationen nehmen und diejenigen mit einer toleranten, progressiven Ausrichtung unterstützen. Im Umkehrschluss bedeutet das: Der Einfluss von konservativen Organisationen soll vermindert werden. So gibt es etwa seit längerem Vorbehalte gegen die türkisch-islamische Organisation DiTiB. Die ist in Deutschland ansässig, ihre Imame werden aber in der Türkei ausgebildet und dann für fünf Jahre nach Deutschland geschickt – als Beamte des türkischen Staates.

 

Geschlechtergerechtigkeit

„Wir stärken das Selbstbestimmungsrecht von Frauen. Wir stellen Versorgungssicherheit her. Schwangerschaftsabbrüche sollen Teil der ärztlichen Aus- und Weiterbildung sein. Die Möglichkeit zu kostenfreien Schwangerschaftsabbrüchen gehören zu einer verlässlichen Gesundheitsversorgung. (…) Ärztinnen und Ärzte sollen öffentliche Informationen über Schwangerschaftsabbrüche bereitstellen können, ohne eine Strafverfolgung befürchten zu müssen. Daher streichen wir § 219a StGB.“ (Koalitionsvertrag, S. 115/116)

Der Paragraf 219a des Strafgesetzbuchs steht schon lange in der Kritik. Er verbietet es Ärzt:innen, öffentlich „Werbung für den Abbruch der Schwangerschaft“ zu betreiben, was allerdings bereits gegeben ist, wenn Ärzt:innen auf ihrer Webseite darauf hinweisen, dass sie Schwangerschaftsabbrüche vornehmen und den Ablauf eines Abbruchs erläutern. Die Ärztin Kristina Hänel war im Jahr 2017 deshalb zu einer Geldstrafe verurteilt worden, das Urteil wurde erst 2021 in einem Revisionsverfahren bestätigt. Dabei steht das Gesetz selbst in dem Verdacht, verfassungswidrig zu sein, Hänel hatte entsprechend auch angekündigt, vor das Bundesverfassungsgericht zu ziehen. Die neue Regierung ist sich darüber einig, § 219a aus dem Strafgesetzbuch zu entfernen.

 

Inklusion von Menschen mit Behinderungen

„Wir wollen, dass Deutschland in allen Bereichen des öffentlichen und privaten Lebens, vor allem aber bei der Mobilität (u. a. bei der Deutschen Bahn), beim Wohnen, in der Gesundheit und im digitalen Bereich, barrierefrei wird.“ (S. 78)

Gleich zwei Seiten lang widmet sich die Ampelregierung im Koalitionsvertrag dem Thema Inklusion. So kündigt sie etwa an, sämtliche offiziellen Gebäude des Bundes barrierefrei gestalten zu wollen. Träger des ÖPNV sollen dafür sorgen müssen, dass Verkehrsmittel und Stationen innerhalb einer gesetzten Frist ebenso barrierefrei umgestaltet werden, bisher mögliche Ausnahmen sollen nach und nach wegfallen. Diese Verpflichtung soll sich auch auf „private Anbieter von Gütern und Dienstleistungen“ erstrecken, also etwa den Einzelhandel. Arbeitgeber, die trotz Verpflichtung keine Menschen mit Behinderung beschäftigen, sollen künftig eine höhere „Ausgleichsabgabe“, also Strafe zahlen. Pflegebedürftige Menschen mit Behinderungen sollen künftig schneller und unbürokratischer Anträge auf Versorgungszuschüsse stellen können.

 

Umwelt- und Klimaschutz

„Wir wollen mehr Innovation, mehr Wettbewerbsfähigkeit, mehr Effizienz, gute Arbeit und klimaneutralen Wohlstand. Dafür brauchen wir ein Jahrzehnt der Zukunftsinvestitionen und mehr Tempo. Unser Ziel ist eine sozial-ökologische Marktwirtschaft.“ (S. 25)

Etwa 40 Seiten lang, fast ein Viertel des Koalitionsvertrags, schmieden SPD, Grüne und FDP Pläne zum Thema Klima-und Umweltschutz. Eine ihrer Maßnahmen ist, das Wirtschaftsministerium um das Aufgabenfeld Klimaschutz zu erweitern. Ein eigenständiges Klimaministerium hätte zwar ein noch stärkeres Signal gesendet, dennoch ergibt der Schritt Sinn: Der größte Verursacher klimaschädlicher Gase ist die Nutzung fossiler Brennstoffe – und zwar in der Industrie, der Stromerzeugung und im Verkehr, also drei Bereichen, für die das Wirtschaftsministerium ganz und teilweise zuständig ist. 

 

„Wir setzen uns für die Gründung einer Europäischen Union für grünen Wasserstoff ein. Dazu wollen wir das IPCEI Wasserstoff schnell umsetzen und Investitionen in den Aufbau einer Wasserstoffnetzinfrastruktur finanziell fördern. So wollen wir bis 2030 Leitmarkt für Wasserstofftechnologien werden und dafür ein ambitioniertes Update der nationalen Wasserstoffstrategie erarbeiten.“ (S. 25)

Interessant ist, dass das Thema Wasserstoff nun auf der Agenda steht. Jahrelang hat sich die Politik kaum durchringen können, diesen Energieträger zu fördern, auch die Grünen taten sich oft schwer damit. Wasserstoff kann als Zwischenspeicher für elektrischen Strom verwendet werden und etwa Elektromotoren in Autos mit Energie versorgen. Mehrere so genannte Brennstoffzellen-Modelle sind schon auf dem Markt und haben ein größeres Klimaschutzpotential als Autos, die ihren Strom aus Batterien beziehen. Die Umweltfreundlichkeit dieses Energieträgers hängt vor allem davon ab, wie der Wasserstoff gewonnen wird. Bisher geschieht dies noch häufig aus Erdgas, was wiederum klimaschädliche Gase freisetzt. Wasserstoff kann allerdings auch aus Solar- oder Windenergie klimaneutral hergestellt werden.

 

„Wir machen es zu unserer gemeinsamen Mission, den Ausbau der Erneuerbaren Energien drastisch zu beschleunigen und alle Hürden und Hemmnisse aus dem Weg zu räumen. Wir richten unser Erneuerbaren-Ziel auf einen höheren Bruttostrombedarf von 680-750 TWh im Jahr. Davon sollen 80 Prozent aus Erneuerbaren Energien stammen.“ (S. 55)

Der Bedarf an elektrischer Energie wird in den kommenden Jahren massiv steigen – etwa durch den Verkehrswandel, aber auch neue Heizmethoden und die Umstellung der Industrie. Kurz gesagt: Grün erzeugter Strom soll die Energiequelle der Zukunft sein. Während Strom für Privathaushalte schon heute zu 45 Prozent aus Erneuerbaren Energien gewonnen wird, ist in den Sektoren Wärme, Industrie und Verkehr noch viel Nachholbedarf vorhanden. So stammten im Jahr 2020 nicht einmal acht Prozent der für den Verkehr benötigten Energie aus erneuerbaren Quellen. Um dies zu ändern, hat sich die neue Regierung ein ganzes Maßnahmenpaket vorgenommen. So soll etwa die Verbreitung von Solarzellen auf geschäftlichen und privaten Neubauten vorangetrieben, zwei Prozent der Landesfläche für Windenergie genutzt und Genehmigungsverfahren für den Neubau oder die Wartung entsprechender Anlagen massiv vereinfacht und verkürzt werden.

 

„Zur Einhaltung der Klimaschutzziele ist auch ein beschleunigter Ausstieg aus der Kohleverstromung nötig. Idealerweise gelingt das schon bis 2030. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, das verschärfte 2030-Klimaziel sowie die kommende und von uns unterstützte Verschärfung des Emissionshandels schränken die Spielräume zunehmend ein.“ (S. 58)

Die Grünen hatten noch einen verbindlichen Kohleausstieg bis 2020 gefordert, hieraus wurde im Zuge der Koalitionsverhandlungen „idealerweise“. Die Problematik: ein erhöhter Energiebedarf bei gleichzeitiger Abkehr von einer der bisher wichtigsten Energiequellen. Allerdings: Braun- und Steinkohle machen zusammen einen Anteil von 24 Prozent aus, weniger als jetzt bereits die Windenergie allein. Dennoch ist die Befürchtung verbreitet, es könne durch die massive Umstellung zu Versorgungslücken kommen.

Eine mögliche Antwort ist der Bau moderner Gaskraftwerke, die mit klimaneutralem Wasserstoff betrieben werden können, womit wir wieder beim zuvor erwähnten Thema sind. Deren Bau soll nun gefördert werden – allerdings werden sie mit herkömmlichem Erdgas betrieben werden müssen, bis genügend Wasserstoff zur Verfügung steht.

Bei allen Ambitionen wurden die Beschlüsse von Fridays For Future sogleich als nicht ausreichend kritisiert. So ist etwa das Ziel der Klimaneutralität bis 2045 geblieben, auch der Preis für CO2-Emissionen ist nicht erhöht worden.

 

Fazit

Zumindest in gesellschaftspolitischen Fragen scheinen sich die Parteien der Ampelkoalition sehr einig gewesen zu sein – und lassen auf eine deutlich fortschrittlichere Regierung als bisher hoffen. Man darf durchaus annehmen, dass viele Neuerungen wie etwa die Abschaffung des Transsexuellengesetzes dank der neuen Mehrheiten im Bundestag zügig umgesetzt werden. Gesellschaftlich dürfte die neue Regierung sehr viel näher an der Realität sein als die vorherige. Ihre Klimaschutzziele sind ambitioniert, der angestrebte Wandel – trotz der durchaus berechtigten Kritik seitens einiger Klimaschutzorganisationen – tiefgreifend.