Veröffentlicht am 14. September 2021

KUNST

"Wir sind einzigartig, aber auch gleich"

Fotografie

Ist die Frau auf dem Bild Muslima oder Christin? Lebt der Mann auf dem Foto in einem Armenviertel von Rio oder einem Fünf-Millionen-Dollar-Loft in New York City? Forscher:in oder Arbeiter:in, mit Behinderung oder nicht, homo- oder heterosexuell: All dies geben die Porträts nicht preis, die die Fotokünstlerin Angélica Dass für ihr Langzeitprojekt Humanæ in fast einem Jahrzehnt erstellt hat. Vor zur Hautfarbe passenden Pantone-Hintergründen zeigen sie einfach nur: Menschen.

In Deutschland war Angélica Dass noch nicht persönlich, dafür aber ein Teil ihrer Arbeiten aus dem Projekt „Humanæ“, welches die Fotokünstlerin dem Archäologischen Museum Hamburg (AMH) zur Verfügung gestellt hat. 2018 war das, im Rahmen der Sonderausstellung „Zwei Millionen Jahre Migration“. Portraits von Menschen aus aller Welt, die auch als eine Art Archiv für die Hautfarben dieser Welt stehen können – und damit ein eindrucksvolles Plädoyer für die Normalität des Lebens namens Vielfalt sind.
 

Angélica Dass' Fotoprojekt in der Galerie Max Estrella in Madrid 2013 (Foto: Angélica Dass)

Ursprünglich hatte Dass, die 1979 in Rio de Janeiro geboren und als junge Erwachsene für ein Design-Studium nach Madrid gegangen ist, im familiären Bereich angefangen zu fotografieren, nämlich ihren spanischen Mann, die Familien, sich selbst, ein buntes Familien-Potpourri. Aus der privaten Arbeit wurde eine für die Öffentlichkeit, aus dem 2012 begonnenen Kurzzeitprojekt ein Langzeitprojekt mit Vision. Angélica Dass hat ihre Lebensaufgabe gefunden, in dieser geht es nur vordergründig um Hautfarben, das eigentliche Thema heißt Gleichberechtigung.

Mit ihrem Humanæ-Projekt möchte Dass, die vom Time Magazine zu den interessantesten neun brasilianischen Fotograf:innen gekürt worden ist, zum Nachdenken anregen, zum Diskutieren, und zu einer neuen Wahrnehmung einladen, auch, wenn sie dieses so offensichtlich nicht sagen würde. Angélica Dass lässt ihre Bilder lieber für sich sprechen, „das Fehlen von Informationen ist die wichtigste Information meiner Fotos”, sagt die Carioca im Video-Gespräch. Was macht diese Bilder so einzigartig? Es sind die Portraits, die auf der einen Seite zeitlos erscheinen, auf der anderen Seite die Zeit festhalten, denn genau das tut Fotografie, die immer auch einen ganz bestimmten Zeitpunkt samt Zeitgeist einfriert. – Hier sind es Gesichter in einer Art Passfoto-Format, die für das Projekt und damit eine Message stehen.
 

"Kunst muss sich für Orte öffnen"

Angélica Dass sucht sich ihre Orte, sie fotografiert in Museen, in Flüchtlingsunterkünften, in Slums, in Restaurants, „mit Open Calls rufe ich zum Fototermin auf, egal, ob in einer Galerie, in einem Armenviertel, Kunst muss sich für Orte öffnen. Die Menschen, die zum Fototermin kommen, leihen mir ihr Gesicht“, sagt Dass, es sei ihr Beitrag zur Gleichberechtigung. „Auf den Fotos sind Religion, Nationalität, Herkunft, sexuelle Orientierung, Bildungsstand oder auch Wohlstand nicht zu erkennen. Ich habe Taube und Blinde fotografiert, in Rio Leute in Favelas, in Chicago und New York Multimillionäre. Die Porträts zeigen: Wir sind einzigartig, aber auch gleich.“
 

„Das Fehlen von Informationen ist die wichtigste Information meiner Fotos”

Die Gleichheit drückt die Fotokünstlerin durch eine scheinbare Vereinheitlichung aus, die dennoch das einzelne Motiv wie auch das Gesamtwerk – oder Teile davon – einzigartig macht. Dazu nutzt Angélica Dass das Pantone Matching System, das weltweit seit vielen Jahren im Grafik- und Druckbereich eingesetzt wird. Grundsätzlich schauen alle, die fotografiert werden, frontal in die Kamera. In der nachfolgenden Bildbearbeitung wird die jeweilige Hautfarbe mit dem Pantone Matching System abgeglichen, dazu wird ein Pixelstreifen von der Nase des jeweiligen Motivs einer Pantone-Farbkarte zugeordnet. In der Hautfarbe der Fotografiert:en färbt Dass folgend den Hintergrund der Aufnahme ein. Die genaue Bezeichnung des Farbtons wird unter dem Foto genannt. Humanae umfasst mittlerweile über 4.000 Porträts von Menschen aller Couleur mit unterschiedlichen Backgrounds, die in 20 Ländern aufgenommn wurden, und ein Ende der Arbeit ist noch lange nicht abzusehen.
 

Mehr als Samba pa ti

Der Afrobrasilianerin Angélica Dass gelingt damit ein Kunststück im wahrsten Sinne des Wortes, denn sie schafft es, mit ihren Foto-Arbeiten aus gängigen Stereotypen auszubrechen und Zuschreibungen zu umgehen. Stereotype und Zuschreibungen, die sie kennt. Obwohl der Rassismus in Brasilien gegenüber der schwarzen wie auch indigenen Bevölkerung dem US-Rassismus in keiner Weise nachsteht, gibt es dennoch einige gravierende Unterschiede und das fängt mit der brasilianischen Selbstbeschreibung an. Im Gegensatz zu den USA haben die kreativen Brasilianer:innen etwa 140 Bezeichnungen für Hautfarben wie „kaffeefarben, Kaffee mit Milch, Zimt, Schokolade, sonnengebräunt, galicisch, halb-weiß, halb-braun, halb-schwarz, oder getoastet“, wie die Süddeutsche Zeitung in einem lesenswerten Artikel über Brasilien, das Gastland der Frankfurter Buchmesse anno 2013 war, schreibt.

In den 1990er Jahren wurde dieser überbordenden Hautfarben-Kreativität ein Riegel vorgesetzt, seitdem müssen sich 191 Millionen Bürger:innen zwischen fünf Optionen entscheiden: weiß, schwarz, braun, gelb oder indigen. Seit der letzten Volkszählung 2010 ist das Verhältnis gekippt, und mehr als 50 Prozent der Bevölkerung geben braun oder schwarz an. Wiederum sagt der Zensus wenig darüber aus, wie die Hautfarbe im Alltag gelebt wird, denn zum einen werden noch die kreativen Hautfarbennamen genannt, zum andern geben viele schwarze und braune Brasilianer:innen u.a. bei Bewerbungen „weiß“ als Hautfarbe an. Damit sie die Chance haben, zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen zu werden. Über solche Hintergründe erfährt man in Europa wenig, in den USA noch weniger.

Ebenso wenig ist bekannt, was der 25. Juli in Lateinamerika bedeutet: An diesem Tag im Juli 1992 trafen sich afro-karibische Frauen aus 32 Ländern Lateinamerikas und der Karibik in der Dominikanischen Republik, um ihre Kämpfe und ihren Widerstand sichtbar zu machen und politische Strategien zur Bekämpfung des Rassismus aus der Geschlechterperspektive zu entwickeln. Als Ergebnis dieses Treffens wurde der Internationale Tag der afro-lateinamerikanischen, afro-karibischen und Diaspora-Frauen ins Leben gerufen, in Brasilien ist dieser Tag seit einigen Jahren ein offizieller Feiertag. Der Weltfrauentag, der jährlich am 8. März gefeiert wird, hat diesen wichtigen Frauentag Lateinamerikas noch nicht mal annähernd zur Kenntnis genommen.

Angélica Dass kommt aus der brasilianischen Mittelschicht und aus dem lebensfrohen Rio de Janeiro. Die Zuckerhutmetropole mit 6,7 Millionen Einwohner:innen, dem berühmten Karneval in Rio, den Jazz-Cafés, dem Samba und Bossa Nova, dem Künstler:innenviertel Santa Teresa und natürlich den über Rio weit ausgebreiteten Armen von Christus Redemptor könnte ohne Frage zur schönsten Stadt der Welt zählen – wäre da nicht die überbordende Gewalt, die brutale Armut – und ein Jahrhunderte alter und global wütender Virus namens Rassismus, der die Menschen gegeneinander aufhetzt, unterdrückt, abwertet, sich gegenüber andere erhebt, mordet, quält, kurz: Menschen  krank macht – und damit auch diesen Planeten.
 

Früh übt sich

Gerade hat Angélica das Kinder-Fotobuch "The Colors We Share" auf den Markt gebracht, es ist für junge Leser ab sechs Jahren gedacht und zeigt Porträts, die die vielfältige Schönheit der menschlichen Haut feiern.“ Überhaupt hat die 41-Jährige die bisherige Pandemie-Zeit dazu genutzt, weitere Ausstellungen vorzubereiten, beispielsweise in Athen, für die letzte Augustwoche: „Während SNF Nostos werden über 100 Porträts entlang des Kanals des Kulturzentrums der Stavros Niarchos Stiftung (SNFCC) ausgestellt, um die Besucher daran zu erinnern, dass die Hautfarbe nicht als Etikett, sondern als objektive menschliche Eigenschaft betrachtet werden kann, und um Vorurteile abzubauen, die zu allen Arten von Ungleichheiten führen“, heißt es in der Ankündigung des Festivalveranstalters SNF Nostos. Workshops mit Kindern sind beim PhotoVille Festival in New York und in Monopoli, Italien während der PhEST geplant. Die Brasilianerin Angélica Dass hat einen guten Plan, den sie konsequent fortführt. Denn hinter dem Projektnamen Humanae verbirgt sich noch ein weiteres Wort, eine weitere hidden Agenda, ihr Name lautet „Schönheit“.
 

Künstlerin Angélica Dass
Die Künstlerin Angélica Dass (Foto: Inés Villeparisis)