Veröffentlicht am 18. November 2021

Notes

Wäre ich schwul, wenn es schwul nicht geben würde?

Manchmal sind es die kleinen Dinge im Leben, die großen Impact auf uns haben – eine Begegnung, eine Beobachtung oder auch einfach ein Gedanke, der uns zufliegt. In den "Notes" schreiben Mitwirkende der Rainbow World über Themen, die sie einfach mal ansprechen wollen oder bewegen. Diesmal: Oscar, Student und Mitarbeiter bei der Aidshilfe Hamburg e.V..

Die Selektion von Lebewesen hat einen biologischen Ursprung, der so alt ist wie die Zeit selbst. Menschengemachte Selektion hat ihren Anfang im Anfang selbst.
Ich wurde mit einem winzigen Penis in eine herzensgute Familie hineingeboren, nicht in die Welt, sondern in ein Krankenhausbett in Nordrhein-Westfalen. Ich habe eine ältere Schwester und einen jüngeren Bruder; wir alle haben braune Augen und einen Hang zu Geheimratsecken.
Selektion lässt sich nicht umgehen, doch eben auch als das Werkzeug verstehen, das Rassismus, Diskriminierung und Ausgrenzung geschaffen hat. Entstigmatisierung und der Abbau von Schubladen hat nicht das Ende der Selektion zum Ziel, sondern die freie Zelebration der Individualität. Und dafür müssen wir uns als Gesellschaft der Selektion von Neuem widmen.

Ein Mensch ist ein Mensch: das ist die einzige Schublade, die zählen sollte

Eine meiner frühesten Erinnerungen ist die, dass ich im Kindergarten versuchte, einem Mädchen zu imponieren. Schon damals lebten wir in klaren Hierarchien: die gelbe Gruppe ist besser als die grüne, die Kinder mit den besten Schaufeln haben den Hut im Sandkasten auf und wer im Kindergarten schon lesen konnte war irgendwie ebenso anbetungswürdig wie fremdartig.
Dieses Mädchen, das ich für mich zu gewinnen suchte, war Teil dieses Schauspiels und retrospektiv vermutlich nicht mehr als eine Trophäe. Dieses ganze System konnte ich als Kind natürlich nicht greifen, doch ich frage mich schon, wo ich dieses Verhalten gelernt habe. Vielleicht als gedanklicher Extrakt der Tatsache, dass alle Kinder, die ich kannte, einen Vater und eine Mutter hatten; die Welt, wie ich sie kannte, war in Frauen und Männer, in Mädchen und Jungen geteilt; mit Jungen galt es sich anzufreunden, die Mädchen waren entweder blöd oder begehrenswert.
Ich frage mich, was nötig gewesen wäre, um in diesen Prozess einzugreifen, der mich unaufhaltsam in die Schublade der Heterosexualität trieb. Offenkundig war ich im Kindergarten-Alter kognitiv in der Lage, ein System zu erkennen – wenn auch nur unterbewusst. Dieses System lässt sich ändern und ich weiß, dass es pädagogische Ansätze gibt, die sich dem Ziel verschrieben haben, Kindern von der Pike auf ein diverses, das Individuum begreifendes Weltbild zu vermitteln. Ein Mensch ist ein Mensch: das ist die einzige Schublade, die zählen sollte.

Bis ich mich aus dem System löste, war festgeschrieben, wer ich bin

Ich wuchs also als heterosexueller Mann auf, der Frauen erobern musste, um die Herde zu beeindrucken und in der Hierarchie aufzusteigen. Charmant. Natürlich gab es während meiner Kindheit und Jugend vage homoerotische Momente. Das reichte allerdings nicht aus, um meine sexuelle Orientierung überhaupt auch nur zu thematisieren. Bis ich mich aus dem System löste, in dem ich aufgewachsen bin, war festgeschrieben, wer ich bin und was ich zu tun habe. Ich – und das galt auch für alle anderen in diesem Mikroversum irgendwo in Nordrhein-Westfalen – wurde systemisch in Schubladen einsortiert, die mir nur ein Mindestmaß an flexibler Entfaltung erlaubten. Das erste Bier, die erste Zigarette, Auflehnung gegen Autoritäten – das waren meine schwächlichen Versuche, auszubrechen. Auszubrechen aus einer Welt, das gehört auch zur Wahrheit, in der ich sehr lange sehr glücklich war. Heute bin ich auch glücklich, aber auf eine Art, die anders ist; sie ist selbstbestimmter und gnädiger.
Heute sind meine Schubladen subtiler und auch komplexer; ich habe mir Zeit gelassen, sie zusammenzuzimmern. Und es gibt immer eine Hintertür, einen Spalt, den ich mir offengelassen habe. Ich möchte so frei in meiner Persönlichkeit, meiner Ambivalenz, meinen Komplexen sein, wie es nur eben geht. Ich habe keine Stärken und Schwächen: ich habe Eigenschaften. Ich bin kein guter oder schlechter Mensch: ich bin und ich tue entweder Gutes oder Schlechtes. Ich bin nicht mein Beziehungsstatus: ich empfinde, ich liebe und fühle mich manchen Menschen verbundener als anderen. Ich bin so frei, wie ich es zu sein schaffe – mal mehr, mal weniger.

Ich weiß um die Schubladen, die ich geöffnet und ausgeleert habe

Ich möchte mich nicht als hetero-, homo oder bisexueller cis-Mann verstehen. Ich möchte mich in die Menschen hineinlieben, die ich anziehend finde. Ich möchte nicht auf mein Geschlecht und die damit verbundenen Charakteristika reduziert werden, sondern als Mensch verstanden werden, der einzigartig ist. Ich möchte Menschen nicht erobern, sondern Verbindungen zu ihnen herstellen. Ich möchte in der Zeit zurückgehen und die Systeme aufbrechen, die mich viel zu lange geprägt haben und auch noch in der Gegenwart Einflüsse auf mich haben.
Ich kann einen Schwanz erregend finden und ich mag Analsex. Ich kann Männer lieben und ästhetisch finden. Und doch herrscht bis heute diese Unsicherheit vor, die ich bei Frauen nicht verspüre. Diese unsichtbare Barriere, die vor so vielen Jahren geschaffen wurde und sich tief in meine Gehirnrinde eingebrannt hat. Noch immer tue ich mich schwer damit, meine Sexualität nicht über Schubladen zu definieren, sondern als Ergebnis von Lust, Gefühl und Sympathie. Noch immer empfinde ich Scham, wenn ich zu einem Porno masturbiere, in dem transsexuelle Menschen Sex haben.
Ich bin müde. Es erschöpft mich, meine erlernten Verhaltensmuster aufzubrechen, um ein freies Individuum werden zu können, das frei lieben und hassen kann und schläft, mit wem es möchte. Ich erkenne die Fortschritte, die ich gemacht habe und weiß um die Schubladen, die ich geöffnet und ausgeleert habe. Und doch sitze ich hier und frage mich, warum dieser selektive Aufwand nötig ist und ob ich nicht schwul wäre, wenn es schwul nie gegeben hätte. Hier sitze ich und träume davon, dass es keine sexuellen Schubladen gibt, sondern wir Menschen einfach nur situativ begehren und lieben, wen wir wollen, ohne darüber nachdenken zu müssen, wo uns das verortet.