Veröffentlicht am 3. Juni 2022

Inklusion

Der Kampf um den Behindertenparkplatz

Kolumne

Tim, Jahrgang 2016, liebt Puzzles und billige Nussmischungen. Er ist mit einem Hirnschaden zur Welt gekommen und braucht zur Fortbewegung einen Rollstuhl oder Rollator. Seine Mutter Iris Mydlach, Redakteurin beim Hamburger Abendblatt, schreibt für Rainbow World über ihre Erfahrungen als Mutter eines Kindes mit Behinderung.

Das Foto zeigt drei freie Behindertenparkplätze.
Leider sind Behindertenplätze nicht immer frei wie diese, sondern häufig von Autofahrer:innen ohne Behinderung besetzt (Foto: Getty Images)

Voriges Wochenende waren wir Eis essen mit beiden Kindern, war das schön. An Sonntagen muss ich oft arbeiten, aber dieses Wochenende hatte ich frei, und die Sonne schien und alles sah danach aus, dass das ein guter Tag wird für uns alle, ich habe mich unglaublich leicht gefühlt.

„Alter, wie traurig ist das denn? So ein kleiner Junge und sitzt schon im Rollstuhl!“

Ein Kind rief diesen Satz so laut, dass ihn zweifellos jeder auf dem Gehsteig vor der Eisdiele hörte, als ich mit Tim in Richtung Auto ging. Eigentlich einer dieser Momente, in denen ich mich umdrehe und lache und in die Runde frage: Ja, wer sagt denn sowas? Wie kann ein Rollstuhl denn was Trauriges sein, wenn ein Junge, der nicht richtig laufen kann, damit zur Eisdiele fährt?

Aber ich sagte nichts, lief mit Tim weiter, als wäre nichts gewesen. Nur warum? Fehlte mir auf einmal – der Mut?

Ich konnte es selbst nicht so genau zuordnen und habe später, als wir längst wieder zu Hause waren, überlegt, ob es vielleicht an dem erschütternden Vorfall liegt, der uns vier Wochen zuvor passiert war. Wir suchten mit dem Auto einen Behindertenparkplatz. Als wir einen fanden, mussten wir feststellen, dass mal wieder jemand draufstand und keine Berechtigung hatte.

Er machte eine Geste, als würde er jemandem die Kehle durchschneiden

Wir kennen das, kennen es schon lange. Vor der Kita meiner Tochter gab es genau einen Behindertenparkplatz (immerhin – das war eine große Erleichterung, da ich Tim immer dabei hatter), der aber oft besetzt war von Eltern, die „nur mal schnell“ ihr Kind reinbringen wollten, so hieß es jedenfalls, wenn wir sie drauf ansprachen. Es war uns unangenehm, wir wollten ja niemanden bloßstellen, waren auch nicht sauer, eher bittend. Aber die Reaktion war selten ein „Sorry!“. Zurück bekamen wir oft ein genervtes Augenrollen und einmal auch die originelle Rückfrage: „Aber wo soll ich denn sonst parken?“ (Ja, dieser Satz ist wirklich gefallen.) Die Kitaleitung übernahm, konnte aber auch nichts erreichen, also riet sie uns, die Eltern anzuzeigen. Was uns am Anfang sprachlos gemacht hatte, machte uns am Ende einfach nur traurig. Wir erstatteten keine Anzeige, weil wir nicht wollten, dass unsere Tochter auf einmal nicht mehr zu den Geburtstagen eingeladen wird.

Auch der Mann auf dem Parkplatz in der City fand die Vorstellung, seinen Parkplatz für uns räumen zu müssen offenbar so absurd, dass er anfing mit uns zu diskutieren. Er wurde verbal aggressiv, wir fotografierten sein Kennzeichen, am Ende zeigte er uns den Mittelfinger, parkte aus – um Minuten später in unserem Rücken wie aus dem Nichts wieder aufzutauchen. Er fotografierte uns vor dem Auto mitsamt Kennzeichen, steckte sein Smartphone in die Tasche und sagte: Ich finde raus, wo ihr wohnt, ich schicke meine Leute zu euch. Und machte danach eine Geste, als würde er jemandem die Kehle durchschneiden. Vor den Kindern.

Zu viert machten wir, dass wir wegkamen. Am liebsten wäre ich gelaufen, der Kinder zuliebe setzte ich einfach nur einen Fuß vor den anderen. Ich blickte in die Augen meines Mannes und sah, dass er genauso große Angst hatte wie ich. Als ich wegen dieser Szene später mit einer Polizistin telefonierte, um mich beraten zu lassen, wie man mit so einer Situation am besten umgeht, fragte sie mich, warum wir nicht sofort einen Notruf abgesetzt hätten. Ehrlich gesagt: Auf diese Idee waren wir gar nicht gekommen. Wir waren schockiert und innerlich am Zittern. Ich hielt auf der einen Seite die Hand meiner Tochter umklammert und schob auf der anderen Tims Rolli. Die Polizistin riet uns klar zu einer Anzeige.

Wenn ich jetzt über diesen Moment schreibe, dann fühlt es sich okay an, weil das alles inzwischen fast einen Monat her ist und ich ein wenig zurückgefunden habe in einen Alltag, der nicht nur von Ängsten dominiert ist. Aber sie begleiten mich trotzdem durch den Tag und lassen mich heftig zusammenzucken, wenn den Kindern beim Malen ein Stift runterfällt. Wo keine Gefahr ist, sehe ich wie aus dem Nichts eine und werde panisch. Angezeigt haben wir diesen Menschen übrigens nicht. Denn dann wäre das passiert, was wir mit allen Mitteln verhindern wollten: Dass er tatsächlich unsere Adresse erfährt, würde er sich einen Anwalt nehmen, der dann wiederum Akteneinsicht bekommt. Natürlich ist das nicht der richtige Weg. Aber es ist in diesem Moment der richtige für uns; darüber hinaus ist es natürlich unbegreiflich: Dass es im Grunde um nichts anderes geht als um einen Parkplatz. Einen blöden, kleinen Parkplatz, den wir aus gewissen Gründen dringender brauchen als andere. Und den ich inzwischen manchmal verfluche, weil er uns in unglaublich bescheuerte Situationen gebracht hat.

Aber wer bei Instagram oder Facebook mit dem Hashtag #behindertenparkplatz sucht, findet ähnliche Geschichten – ähnlich Unglaubliches.

Für uns wird es wahrscheinlich so sein wie mit Vielem: Die Zeit arbeitet für uns. Irgendwann ist sie dann einfach zurück, die alte Leichtigkeit. Und dann drehe ich mich auch wieder um, vor meiner Eisdiele und erkläre allen, die es wissen möchten (oder nicht), wie genial Rollstühle sind. Auch für Kinder. Gerade für Kinder.

Weitere Teile der Kolumne von Iris aus ihrem Leben mit Tim:

#1: "Keine Mutter ist darauf vorbereitet"

#2: "Ich wusste nicht, wohin mit meinem Glück"

#3: "Zwischenmenschliche Herausforderungen"

#4: "Abschied aus der Reha-Klinik"

#5: "Schattenkinder: Wenn dein Bruder schwer krank ist"

Über Tims Behinderung

Infantile Zerebralparese, kurz: CP nennen es die Ärzte, wenn Kinder vor oder während der Geburt an Sauerstoffmangel leiden – ein kleines oder großes Handgepäck, je nachdem, wie groß der Schaden im Gehirn ist und welche Areale betroffen sind. Von einer leichten Lese-Rechtschreibschwäche bis hin zur mehrfachen Schwerstbehinderung ist alles möglich. Vorhersehbar ist die Entwicklung der Kinder in den seltensten Fällen. Bildlich vorstellen kann man sich da so: Das Gehirn sendet Informationen an die entsprechenden Körperteile („Beine, bitte laufen!“) – die gehorchen aber nur bedingt. Weil oft auch Einschränkungen der Sprache mit der Behinderung einhergehen, werden diese Kinder schnell von Erzieher:innen oder später Lehrer:innen abgeschrieben, obwohl sie alles mitbekommen. Diese frühkindlichen Erfahrungen prägen die Kinder oft ein Leben lang. Als besonders eindrucksvoll gilt die Geschichte des von CP betroffenen irischen Schriftstellers Christy Brown, der mit 18 Jahren zu sprechen begann und mit seinem linken Fuß schreiben lernte, weil es das einzige Körperteil war, das sich verlässlich ansteuern ließ.
 
Bei Tim betrifft die Cerebralparese vor allem die Motorik und seinen Gleichgewichtssinn. Er kann nicht ohne Hilfsmittel krabbeln oder laufen, alleine sitzen geht von Tag zu Tag besser. Kognitiv ist er dafür weniger betroffen. Er spricht, singt, flucht, nörgelt und bejubelt jedes Tor seines FC St. Pauli.


Text: Iris Mydlach