Veröffentlicht am 22. April 2022
Schattenkinder: Wenn dein Bruder schwer krank ist
Tim, Jahrgang 2016, liebt Puzzles und billige Nussmischungen. Er ist mit einem Hirnschaden zur Welt gekommen und braucht zur Fortbewegung einen Rollstuhl oder Rollator. Seine Mutter Iris Mydlach, Redakteurin beim Hamburger Abendblatt, schreibt für Rainbow World über ihre Erfahrungen als Mutter eines Kindes mit Behinderung.
Es gibt ein Foto von meiner Tochter und mir, das ich liebe, es zeigt uns im Herbst 2015. Malie ist noch ein Baby, sie sitzt auf meinen Schultern, ich halte ihre Hände und habe ihr mein Gesicht zugewendet: „Hast du Lust, mit mir die Welt zu erobern?“, scheint mein Blick zu sagen, wir waren gerade von einer langen Reise heimgekehrt, nur meine Tochter und ich. Zu dritt feierten wir unser Wiedersehen im Flur der kleinen Wohnung. Ein Moment, der ganz klar umrissen ist in meiner Erinnerung. Ich war im dritten Monat schwanger mit Tim.
„Hast du Lust, mit mir die Welt zu erobern?“ Wenn ich heute an diesen Moment denke, ist es schwer zu beschreiben, was in mir vorgeht. Manchmal denke ich, wie wenig von der Person geblieben ist, die ich auf dem Foto damals war. Und frage mich, wann genau es passiert ist. Dass die Ängste übernahmen und meine Abenteuerlust immer weniger wurde. Malie war 18 Monate alt, als ihr Bruder geboren wurde. Ich brachte sie morgens zu den Tagesmüttern und ging anschließend zum Frauenarzt. Zwei Stunden später war Tim auf der Welt.
Schon unter normalen Umständen ist das für jedes Erstgeborene schwierig: mit der Geburt eines kleinen Geschwisterchens die Aufmerksamkeit plötzlich teilen zu müssen, die man bislang für sich allein hatte – angefangen bei den eigenen Eltern, bin hin zu den Nachbarn im Haus. Wer soll das denn bitte schaffen? So sehe ich das heute, so konnte ich es im März 2016 nicht sehen. Damals drehten sich meine Gedanken rund um die Uhr um Tim und die Frage, wie sich das mit der Behinderung wohl noch verhindern ließ – so traurig das ist. Aber es war damals so. Es war das Ende der Leichtigkeit.
Schattenkinder ist das Wort, das in diesem Zusammenhang oft verwendet wird, um Kinder wie Malie zu beschreiben. Die mit einem schwerkranken oder beeinträchtigten Geschwisterkind aufwachsen, und ich gebe gerne zu, dass ich von Anfang meine Schwierigkeiten damit hatte. Warum? Weil ich dachte, dass ich das alles im Blick habe. Ein Schattenkind in meiner Familie? Würde es nicht geben, ich passe ja auf und dosiere bewusst: Zeit für Tim, für Malie, für mich – und für meinen Partner.
Was ich inzwischen gelernt habe: Ich kann aufpassen, wie ich will, die Verteilung von Licht und Schatten kann ich nicht groß beeinflussen. Die Behinderung eines Kindes kostet Zeit, für die Pflege, das Hilfsmittel-Management, die Kämpfe mit den Krankenkassen. Für die Inklusion. Die Stunden rinnen dahin, und am Ende vieler Tage bleibt die bittere Erkenntnis: Malie wird noch so oft den Kürzeren ziehen. Weil die Dinge sind, wie sie sind. Aus Malies Sicht klingt das ein bisschen anders: Es ist sowas von unfair. Weil jeder Husten, jeder Sturz, jedes alltägliche Scheitern weniger wert ist als bei ihrem behinderten Bruder. Den sie natürlich trotzdem liebt. Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun.
Ich habe in letzter Zeit häufiger versucht, Malie Worte dafür zu geben – für das Gefühl ihres ständigen Zurücksteckens, und ich war erstaunt, wie dankbar sie dieses Angebot angenommen hat. Was vorher nur ein dunkles Etwas war, das über sie gekommen ist, hat jetzt einen Namen. Damit sie benennen kann, was so unglaublich schwer zu benennen ist. Das ist wichtig.
Für einen Moment war mein gesundes Kind auch behindert
Bis heute ist Malie diejenige, die zurückbleibt, wenn mal wieder eine OP oder eine Reha ansteht, wenn ihr Bruder hinausfährt in die Welt (und wir ihn mit besorgten Gesichtern begleiten). Wie im Frühjahr 2019, als Tim eine Operation in Barcelona bevorstand und Malie am Morgen des Abflugs mit seltsamen Bewegungen vor mir herstakste, ich verstand es nicht und mir fehlte die Zeit, also schob ich sie beiseite oder überholte sie auf dem Flur. Bis mir beim Einschlafen in Barcelona klar wurde: Sie war in diesem Moment auch behindert. Sie kämpfte gegen die Spastik in ihren Beinen. Sie brauchte auch eine Operation in Barcelona. Aber sie war nicht diejenige, die dorthin fliegen durfte. Und noch immer steht meine Einladung zur Welteroberung aus.
Ende September stand mal wieder eine Operation an, die Schrauben von Tims Hüft-OP mussten entfernt werden. Sechs Wochen waren es am Ende. „Mama, ich habe gar nicht gemerkt, dass ich dich vermisst habe“, sagte Malie und sah mich minutenlang von der Seite an als wir zusammen von der Schule nach Hause fuhren, ich hatte sie am Schultor überrascht und abgeholt am Tag unserer Heimkehr. „Ich hatte dich ganz vergessen.“
Gefeiert haben wir tagelang. Unser Wiedersehen als Familie, und das nicht zu knapp.
In wenigen Wochen werden Malie und ich übrigens durch die Lüneburger Heide wandern. Keine Welteroberung, ich gebe es zu. Aber ein Anfang. Drei Tage lang, zwei Übernachtungen, die Planung steht. Und Sonnenbrillen werden wir einpacken. Den Schatten hatten wir lange genug.
Weitere Teile der Kolumne von Iris aus ihrem Leben mit Tim:
#1: "Keine Mutter ist darauf vorbereitet"
#2: "Ich wusste nicht, wohin mit meinem Glück"
Über Tims Behinderung
Infantile Zerebralparese, kurz: CP nennen es die Ärzte, wenn Kinder vor oder während der Geburt an Sauerstoffmangel leiden – ein kleines oder großes Handgepäck, je nachdem, wie groß der Schaden im Gehirn ist und welche Areale betroffen sind. Von einer leichten Lese-Rechtschreibschwäche bis hin zur mehrfachen Schwerstbehinderung ist alles möglich. Vorhersehbar ist die Entwicklung der Kinder in den seltensten Fällen. Bildlich vorstellen kann man sich da so: Das Gehirn sendet Informationen an die entsprechenden Körperteile („Beine, bitte laufen!“) – die gehorchen aber nur bedingt. Weil oft auch Einschränkungen der Sprache mit der Behinderung einhergehen, werden diese Kinder schnell von Erzieher:innen oder später Lehrer:innen abgeschrieben, obwohl sie alles mitbekommen. Diese frühkindlichen Erfahrungen prägen die Kinder oft ein Leben lang. Als besonders eindrucksvoll gilt die Geschichte des von CP betroffenen irischen Schriftstellers Christy Brown, der mit 18 Jahren zu sprechen begann und mit seinem linken Fuß schreiben lernte, weil es das einzige Körperteil war, das sich verlässlich ansteuern ließ.
Bei Tim betrifft die Cerebralparese vor allem die Motorik und seinen Gleichgewichtssinn. Er kann nicht ohne Hilfsmittel krabbeln oder laufen, alleine sitzen geht von Tag zu Tag besser. Kognitiv ist er dafür weniger betroffen. Er spricht, singt, flucht, nörgelt und bejubelt jedes Tor seines FC St. Pauli.
Text: Iris Mydlach