Veröffentlicht am 3. Dezember 2021

Inklusion

Zwischenmenschliche Herausforderungen

Kolumne

Tim, Jahrgang 2016, liebt Puzzles und billige Nussmischungen. Er ist mit einem Hirnschaden zur Welt gekommen und braucht zur Fortbewegung einen Rollstuhl oder Rollator. Seine Mutter Iris Mydlach, Redakteurin beim Hamburger Abendblatt, schreibt für Rainbow World über ihre Erfahrungen als Mutter eines Kindes mit Behinderung.

Kolumnistin Iris Mydlach und ihr Sohn Tim
Unsere Kolumnistin Iris Mydlach und ihr Sohn Tim

Die Reha-Klinik, in der ich mit Tim gerade bin, war 2020 für mich ein nahezu perfekter Ort. Zum ersten Mal war ich umgeben von Menschen, die alle selbst ein behindertes Kind hatten, gesunde Geschwisterkinder tobten umher, ich musste mich nicht groß erklären. Gespräche begannen meist mit Fragen zum Equipment: Ach Gott, eure Orthesen sehen ja super aus, wo bekommt man die denn in der Farbe, schläft er damit auch nachts?

Und jetzt ist es wieder ganz genauso. Auf dem Stationsflur geht es mitunter abenteuerlich zu. Elektro-Rollis, Krücken, Rollatoren, Dreiräder, Handbikes – alles ist im Einsatz, die Liste der Fortbewegungsmittel unendlich lang, was sich auch über die Fortbewegung der Kinder selbst sagen lässt: Jedes kommt auf seine eigene Art voran. Mit X-Beinen, O-Beinen, langsam, spastisch, hastig – oder an der Hand der Geschwister. Es war halt einfach egal beziehungsweise normal.

Dieses Wir-sind-viele-Gefühl machte stark und beflügelte. Wie oft saßen wir abends im Aufenthaltsraum und waren euphorisch, gingen am Wochenende in die Cafés, weil jeder uns sehen sollte, uns und unsere großartigen Kinder.

Aber: Nicht wirklich alle saßen am Ende eines Tages beieinander. Das wurde mir erst später bewusst.

Der Begriff „Ausländerin“ fiel damals wie aus dem Nichts. Es ging darum, welches Zimmer auf dem Flur bald freiwerden würde, und weil Unklarheit herrschte, brauchte es Orientierung. „Na ja, das Zimmer vorne rechts“, sagte eine Mutter, „Richtung Fahrstühle, hinter der Ausländerin.“

Die Rede war von Meryem, ich hatte schon öfter in der Teeküche mit ihr gesprochen, eine schüchterne Frau mit einem wundervollen elfjährigen Jungen, den sie rund um die Uhr versorgte. Abends blieb sie in ihrem Zimmer. Eine „Ausländerin“? Was für ein einfältiger Begriff, den hab ich schon immer gehasst. Spaltend und grob, ein Sammelbegriff für alle, die in der Klinik Hijab trugen oder deren Kinder nicht Leonie, Finn oder Kevin hießen. Okay, so beginnt also Diskriminierung, dachte ich: Indem man Menschen keinen Namen gibt und ihnen damit jegliche Individualität abspricht.

Wie sollte ich damit umgehen? Es gab mehrere Möglichkeiten: Ich tue so, als wäre nichts gewesen und denke mir meinen Teil. Ich sage etwas. Oder ich bleibe der Gruppe fortan kommentarlos fern. Ich entschied mich für die zweite Variante und sprach es an: „Du meinst Meryem, die Mama von Hamid?“, sagte ich jedes Mal, wenn der Begriff „Ausländerin“ fiel. Ein stilles Nicken war meistens die Antwort. So war es für mich zu diesem Zeitpunkt okay. Nur war es damit leider nicht getan...

In unserer zufällig zusammengewürfelten Stationsgemeinschaft gab es auch einen alleinerziehenden Vater zweier schwerstbehinderter Kinder, er selbst war gehörlos und Thermomix-Vertreter, jeden Abend führte er in der Klinik mit Gebärdensprache vor dem Laptop Verkaufsgespräche. Ein Supertyp. Wenn es allerdings darum ging, seinen Alltag zu beschreiben, klang das echt mühsam. „Es ist schwer, zum Beispiel, wenn ich aufs Amt muss, ich brauche immer einen Dolmetscher, es gibt so wenige“, erzählte er, und die Antwort der Mutter vom rechten Rand ließ nicht lang auf sich warten. Wie traurig es sei, dass man als Deutscher für so etwas kämpfen müsse, während für „die Ausländer“ immer gesorgt sei.

Auch rechte Eltern haben behinderte Kinder

Es war nicht so, dass nach dieser Aussage kurz Stille herrschte oder ein empörtes Staunen oder so. Außer bei mir, so mein Eindruck. Das Gespräch lief einfach weiter, bis ich irgendwann auch mal eine Geschichte erzählte. Von Farid und Dunya, die 2015 über den Landweg aus Syrien geflüchtet waren, die nächtelang schutzlos im Wald geschlafen und dabei einmal ihre Tochter über längere Zeit (sie konnten es beide nicht benennen) in völliger Dunkelheit in einem Graben verloren hatten – die also wirklich traumatisiert waren, aber es trotzdem geschafft hatten und bleiben wollten. Zu dritt. Die Eltern suchten in Hamburg eine Arbeit.

Da Farid offenbar ein begnadeter Automechaniker ist, gab es gleich mehrere Hamburger Werkstätten, die ihn unbedingt einstellen wollten. Nur war sein Aufenthaltsstatus nicht geklärt. Immer wieder meldete sich Farid bei der Hamburger Ausländerbehörde und fragte nach, wann es endlich für ihn losgehen könne. Bis sie ihm dafür ein Bußgeld aufdrückten.

Mir war schon klar, dass diese Erzählung total einzahlt auf die „Wer sich benimmt, darf gerne bleiben“-Haltung so vieler rechter Ideolog*innen. Aber mit der Aufzählung von „bekehrenden“ Fakten oder einem demonstrativen Verlassen der Runde hätte ich vielleicht noch weniger erreicht. Ich glaube, es war eine Entscheidung aus dem Moment heraus und vielleicht auch die Hoffnung, mit dieser Happy-End-Migrationsgeschichte zumindest einen Denkanstoß gegeben zu haben.

Ich selbst muss einfach kapieren, dass auch rechte Eltern behinderte Kinder haben und dieses Thema für sich völlig anders deuten. Dass ihre Kinder zwar eingeschränkt sind, aber wenigstens „von hier“. Ja, so einfach ist da der Ansatz, fürchte ich. Eine russischstämmige Mutter erzählte mir vor einigen Tagen, sie verbiete ihrer Tochter, Russisch zu sprechen (und sprach dabei mit ihr Russisch) – damit sie nicht denselben Akzent entwickle wie sie selbst. „Sie ist doch schon behindert“, sagte sie zur Erklärung, weil ich es einfach nicht verstand. „Muss man ja nicht auch noch hören, dass sie anders ist.“

Darauf hatte ich keine Antwort. Habe ich keine Antwort. Weil es doch im Grunde so ist: Wenn wir Eltern behinderter Kinder uns darauf besinnen würden, was das Wichtigste ist, nämlich unsere Kinder stark zu machen für eine Zukunft, in der sie es nicht leicht haben werden, wäre die Sache im Grunde geritzt – wir würden zusammenhalten. Aber das tun wir nicht. Stattdessen gibt es für manche einfach die, die anders sind und die, die nicht anders sind. Und das bekommen die, die anders sind, auch hier tagtäglich zu spüren. Das mag total gaga klingen, aber tatsächlich bin ich ein Jahr später wieder an genau diesem Punkt: Wieder ist wie aus dem Nichts der Begriff „Ausländerin“ gefallen. Wieder trägt die Mutter, die gemeint ist, Hijab, der Sohn einen arabischen Namen. Auch dieses Mal habe ich es kommentiert. Auch dieses Mal möchte ich in den Dialog gehen. Vielleicht sogar entschiedener als sonst. Es ist Herbst. Es kommen härtere Tage. Oder was denkt Ihr?

Weitere Teile der Kolumne von Iris aus ihrem Leben mit Tim:

#1: "Keine Mutter ist darauf vorbereitet"

#2: "Ich wusste nicht, wohin mit meinem Glück"

Über Tims Behinderung

Infantile Zerebralparese, kurz: CP nennen es die Ärzte, wenn Kinder vor oder während der Geburt an Sauerstoffmangel leiden – ein kleines oder großes Handgepäck, je nachdem, wie groß der Schaden im Gehirn ist und welche Areale betroffen sind. Von einer leichten Lese-Rechtschreibschwäche bis hin zur mehrfachen Schwerstbehinderung ist alles möglich. Vorhersehbar ist die Entwicklung der Kinder in den seltensten Fällen. Bildlich vorstellen kann man sich da so: Das Gehirn sendet Informationen an die entsprechenden Körperteile („Beine, bitte laufen!“) – die gehorchen aber nur bedingt. Weil oft auch Einschränkungen der Sprache mit der Behinderung einhergehen, werden diese Kinder schnell von Erzieher:innen oder später Lehrer:innen abgeschrieben, obwohl sie alles mitbekommen. Diese frühkindlichen Erfahrungen prägen die Kinder oft ein Leben lang. Als besonders eindrucksvoll gilt die Geschichte des von CP betroffenen irischen Schriftstellers Christy Brown, der mit 18 Jahren zu sprechen begann und mit seinem linken Fuß schreiben lernte, weil es das einzige Körperteil war, das sich verlässlich ansteuern ließ.
 
Bei Tim betrifft die Cerebralparese vor allem die Motorik und seinen Gleichgewichtssinn. Er kann nicht ohne Hilfsmittel krabbeln oder laufen, alleine sitzen geht von Tag zu Tag besser. Kognitiv ist er dafür weniger betroffen. Er spricht, singt, flucht, nörgelt und bejubelt jedes Tor seines FC St. Pauli.


Text: Iris Mydlach