Liebe mit Hindernissen
„Alle 11 Minuten verliebt sich ein Single“ – so schnell wie es die Werbung eines großen Online-Dating-Portals verspricht, läuft es hier nicht mit der großen Liebe. Die Helfer:innen der Schatzkiste, einer Partnervermittlung für Menschen mit geistigen, körperlichen oder seelischen Behinderungen, setzen eher auf „slow love“. Wir sprachen mit der Vorsitzenden Astrid Möllenkamp über die besonderen Herausforderungen.
Kein wisch-und-weg, kein click-and-kiss. Die Schatzkiste vernetzt nachhaltig und mit viel Einfühlungsvermögen. Mehr als 40 Anlaufstellen gibt es bundesweit unter dem Dach der Partnervermittlungsagentur für Menschen mit Behinderungen. Sie alle sind an Träger der sozialen Arbeit (zum Beispiel Lebenshilfe oder Caritas) angeschlossen und arbeiten autark. Ihr gemeinsames Ziel: Menschen mit Behinderungen ihren Wunsch nach einer Beziehung zu erfüllen.
Rainbow World: Wie ist die Schatzkiste entstanden und was macht sie besonders?
Astrid Möllenkamp: Gegründet wurde die Schatzkiste 1998 von dem Psychologen Bernd Zemella, der in Hamburg mit Menschen mit Lernschwierigkeiten und geistigen Behinderungen gearbeitet hat. Er wurde dabei häufig mit dem Bedürfnis nach Liebe konfrontiert und hat diese eben auch ernst genommen, ihr eine entsprechende Wichtigkeit beigemessen. So hat er als erster eine solche Kontaktvermittlungsstelle eröffnet, war Erfinder und Namensgeber der Schatzkiste. Wir möchten für die Suche nach einer/m Partner:in einen sicheren Rahmen geben. Es gibt viele Möglichkeiten, eine/n Partner:in zu finden. Für Menschen mit Behinderungen ist das Thema Dating jedoch nicht einfach, weil sie häufig mit viel mehr Unsicherheiten zu kämpfen haben als Menschen ohne Handicap. Mit unserem Angebot decken wir eine Nische ab. Zu uns kommen diejenigen, die vielleicht schon ganz viel in der Richtung versucht haben. Aber auch jene, die sich einen Schutzraum für den ersten Kontakt wünschen. Wichtig ist uns, dass wir kostenlos bzw. kostengünstig unterstützen wollen.
Brauche ich einen Schwerbehindertenausweis, um in der Schatzkistenkartei aufgenommen zu werden?
Wir bringen Menschen mit jeglicher Form von Behinderung in Kontakt. Behinderungen fassen wir sehr weit. Die Schatzkiste in Mainz zum Beispiel unterstützt schwerpunktmäßig Menschen mit seelischen Erkrankungen. Wir sind auch für Menschen mit Depressionen, Psychosen, Burnout-Syndromen und Suchterkrankungen da. Die wenigsten Schatzkisten erwarten einen Behindertenausweis. Es geht vielmehr darum, Menschen zu helfen, die sich in einer besonderen Situation befinden und diese als Behinderung sehen oder sich aufgrund einer Erkrankung eingeschränkt fühlen.
Was macht die Schatzkiste anders als andere Partnervermittlungen?
Wir lernen alle unsere Kund:innen persönlich kennen. Also weder telefonisch noch übers Internet. So können wir einen ziemlich guten Eindruck von dem Menschen bekommen, der auf der Suche ist. Das ist zwar nicht der einfachste Weg, aber eben unserer. Dann schauen wir in unserer Datenbank nach einer/m passenden Partner:in und senden beiden einen kleinen Steckbrief der/s Anderen mit einem Foto, dem Vornamen und Alter, Hobbys, Interessen und einem Satz dazu, was sich die- oder derjenige von der/m Anderen erhofft.
Das heißt, über die Behinderung meines Gegenübers erfahre ich erst einmal nichts?
Richtig. Wenn sich zwei Menschen über die Schatzkiste kennenlernen, handhaben wir es so, dass wir zur Art und Form der Behinderung des Gegenübers nichts sagen. Wir als Vermittelnde wissen natürlich nach dem Vorgespräch um die Situation, auch weil das für die Suche nach einem passenden Partner wichtig sein kann. Von den Menschen, die sich in unserer Kartei aufnehmen lassen, erwarten wir eine gewissen Offenheit – gegenüber den Einschränkungen anderer und auch was den Umgang mit den eigenen Einschränkungen angeht. Natürlich jeder in seinem Tempo. Bei Suchterkrankungen verständigen wir uns darauf, dass diese gleich beim ersten Treffen thematisiert werden müssen, damit das Gegenüber das einordnen kann – zur Sicherheit aller.
Wie läuft das erste Treffen ab?
Wenn sich zwei Menschen anhand der Steckbriefe sympathisch sind, dann initiieren wir ein erstes Treffen. Von uns ist dann jemand dabei, zumindest am Anfang, um zu schauen, dass sich beide in der Situation und der Gegenwart der/s Anderen wohlfühlen.
Viele Menschen mit Behinderungen sind im Alltag auf Unterstützung angewiesen. Inwieweit kann eine familiäre Begleitung zum Gelingen des ersten Dates beitragen?
Eine Begleitung durch enge Vertraute kann hilfreich sein, wenn die Kontakt suchende Person das möchte. Je nachdem wie ausgeprägt die Beeinträchtigung ist oder auch wie offen oder verschlossen jemand ist, kann es von Nutzen sein, wenn die Mutter oder der Vater dabei ist. Es kann aber auch stören. Zum Beispiel wenn es um intime Themen wie Sexualität geht. Dann sollten Begleitpersonen soviel Feingefühl haben, den Raum zu verlassen, um ein Gespräch unter vier Augen zu ermöglichen.
Wie hoch ist Ihre Erfolgsquote?
Das kann man nicht genau sagen. Aus meiner persönlichen Praxis kann ich berichten, dass es bei rund der Hälfte der Menschen, die von uns einen Partnervorschlag erhalten, zu einem ersten Date kommt. Wiederum die Hälfte bleibt in Kontakt.
"Der Kontakt mit uns kann auch eine Möglichkeit sein, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen"
Wie sieht es zum Beispiel mit Menschen aus, die an Depressionen leiden? Würden Sie hier jemanden vermitteln, die/der auch an Depressionen leidet oder wäre das genau die falsche Herangehensweise?
Es gibt Konstellationen, die vielleicht ungut sind, weil sich beide gegenseitig runterziehen, aber es gibt auch den Minus-und-minus-ergibt-plus-Effekt. Viele Menschen mit seelischen Erkrankungen berichten mir, dass sie versucht haben, mit Nicht-Erkrankten zusammen zu sein. Da fehlt es häufig an Einfühlungsvermögen. Wie es zum Beispiel ist, stationär aufgenommen zu werden, ist für jemanden, die/der das noch nicht erlebt hat, schwer nachzuempfinden. Wer sich gut tut und wer gar nicht – das ist eine höchst individuelle Sache. Auch hierfür ist es extrem hilfreich, dass wir all unsere Klient:innen eingangs im persönlichen Gespräch kennenlernen.
Begleiten Sie Ihre Klient:innen auch bei Liebeskummer?
Natürlich haben wir auch ein offenes Ohr bei Liebeskummer, wenn unsere Kapazitäten es zulassen. Wir setzen aber auch schon früher an. Es gibt Fälle, die erst lernen müssen, sich selber einzuschätzen. Da werden Erwartungen an die/den andere/n gestellt, die man selbst aber nicht erfüllt. Der Kontakt mit der Schatzkiste kann auch eine gute Möglichkeit sein, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen. Nicht falsch verstehen: Es geht darum, sich mit seinen Vorzügen, aber auch mit seinen Grenzen zu beschäftigten. Jede:r darf Wünsche haben und soll für sich das Beste daraus machen. Die Chance auf eine glückliche Beziehung ist allerdings höher, wenn die Ansprüche stimmig sind.
Warum ist Liebe und Sex mit Behinderung noch so ein Tabu?
Ich finde, das Tabu ist schon sehr aufgebrochen. Vor gar nicht langer Zeit war das noch überhaupt kein Thema, weil Menschen mit Behinderungen damals noch viel mehr wie Kinder behandelt wurden. Da wurde oft gar nicht über Sex gesprochen. Heute werden Menschen mit Behinderungen von Anfang an ganz anders in alle Lebensbereiche integriert: Eltern setzen sich zum Beispiel dafür ein, dass ihre Kinder mit Behinderungen in reguläre Kindergärten gehen. Und doch ist es für einige Menschen wichtig, Schutzräume zu haben. Die Sorge um Menschen mit Behinderungen, was sexuelle Ausbeutung angeht, ist nicht unbegründet. Auch ungeplante Schwangerschaften machen vielen Angehörigen Angst. Dennoch müssen Bedürfnisse und Wünsche nach Liebe, Zusammengehörigkeit und auch körperlicher Nähe Raum haben und ernst genommen werden. In der Vermittlungsarbeit machen wir die Erfahrung, dass es weniger um Sex als darum geht, sich jemanden an seiner Seite zu wünschen, mit dem man durchs Leben gehen kann, nicht allein zu sein.
Wie gehen Sie mit Kinderwünschen Ihrer Klient:innen um?
Das ist hin und wieder Thema in unserer Arbeit. Wenn der Wunsch nach Kindern da ist, ist es wichtig, darüber zu sprechen. Es ist ja ein nachvollziehbarer, menschlicher Wunsch. Wenn man dann aber ins Gespräch darüber geht, was neben den schönen Seiten auch an Verantwortung und Arbeit mit dem Kinderkriegen verbunden ist, erlebe ich meine Klient:innen nicht so, dass sie kopflos mit dem Thema umgehen. Es geht nicht darum, es jemandem ausreden zu wollen, aber eben ganz konkret zu vermitteln, was es bedeutet, Eltern zu sein. Denn erst einmal möchte ja jede:r mit den eigenen Wünschen an- und ernstgenommen werden. Das ist ganz wichtig.
Sie bringen ausschließlich Menschen mit Behinderungen zusammen. Widerspricht das nicht dem Prinzip der Inklusion?
Das Inklusive an unserem Angebot ist, dass wir das Beziehungsleben von Menschen mit Behinderungen überhaupt nicht infrage stellen. Ja, es stimmt, wir sind exklusiv und damit der Grundidee der Schatzkiste treu geblieben: Wir sind ein Nischenangebot mit Schutzfaktor. Gerade auch weil Menschen mit Behinderungen, insbesondere Frauen, viel häufiger Opfer sexualisierter Gewalt sind als Menschen ohne Behinderungen. Wir haben hin und wieder– vorsichtig ausgedrückt – seltsame Anfragen von Männern, die sich explizit eine Frau mit Down-Syndrom wünschen, oder Menschen, die sich nach einer/m Rollstuhlfahrer:in als Partner:in sehnen. Da wird einem ein bisschen komisch. Das Exklusive an unserem Angebot ist eben auch ein Schutzrahmen. Wobei wir immer auch wieder intern diskutieren, ob wir die Schatzkiste auch für Menschen ohne Behinderungen öffnen sollten. Am Ende bin ich aber der Meinung, dass es dafür bereits viele Angebote gibt – auf jeder Online-Singlebörse kann sich jeder Mensch, ob nun mit oder ohne Behinderung, anmelden.
Gibt es einen Fall, der Sie besonders berührt hat?
Ich war bei einer Eheschließung dabei und das berührt mich bis heute, weil die beiden wirklich sehr zurückhaltend waren, überhaupt eine Beziehung einzugehen. Beide kamen mit einer seelischen Erkrankung zu uns und fanden aneinander Halt.
Interview: Anna Hesse
Hauptberuflich arbeitet Astrid Möllenkamp bei der Gemeinnützigen Gesellschaft für Paritätische Sozialarbeit in Mainz. Ihr Schwerpunkt: die psychosoziale Unterstützung von Menschen mit seelischen Erkrankungen. Seit 2008 leitet sie die Mainzer Schatzkiste und ist zudem Vorsitzende des Bundesvereins „Die Schatzkiste e.V.“