Veröffentlicht am 14. September 2021

Interview

Magazin für starke Kinder

MEDIEN

Jede:r kennt die knallig bunten Kindermagazin-Regalreihen im Kiosk oder an der Supermarktkasse: kreischend pink oder mit Pferdebezug für Mädchen, Autos oder Superhelden für Jungs. Meistens läuft es dann so: fünf Minuten lang das Plastik-Gimmick kaputtspielen und dann noch mal fünf Minuten den meist mehr als trivialen Inhalt des Hefts angucken. Und ab in die Tonne! Zwei Frauen aus Berlin haben diesen Trash-Heften, die nicht nur Rollenklischees etablieren, sondern zudem kaum Vielfalt abbilden, nun etwas entgegengesetzt: das Kinderstark Magazin. Wir haben mit dem Ehepaar Anika und Sarah Heine über Stärke, die Wichtigkeit von Vorbildern und Prinzessin Lillifee gesprochen.

Cover der ersten Ausgabe des Kinderstark Magazins
Sarah und Anika Heine, die Schöpferinnen des Kinderstark Magazins
Schöpferinnen des Kinderstark Magazins: Sarah (links) und Anika Heine mit den Titeln der ersten beiden Ausgaben. (Foto: Judith Jakob)
Cover der zweiten Ausgabe des Kinderstark Magazins

Warum sollte ich meinem Kind euer Magazin kaufen?

Anika: Dadurch, dass wir sehr stark darauf achten, dass das Magazin diskriminierungskritisch ist, entsteht bestenfalls ein sicherer Raum. Das heißt, dass sich Bezugspersonen von Kindern keine Sorgen machen sollten, dass Kinder in unserem Magazin ausgegrenzt, diskriminiert oder beleidigt werden. Auch nicht, dass rassistische oder diskriminierende Begriffe reproduziert werden. Wir wollen wirklich, dass sich alle Kinder angesprochen fühlen, abgeholt und mitgenommen werden. Und wir schaffen natürlich auch eine Wissensplattform. Und zwar über die verschiedenen Marginalisierungen hinaus. Das ist uns so wichtig, weil es großartig ist, dass sich die Kinderliteratur zum Beispiel jetzt schon mehr für Kinder of Colour oder Schwarze Kinder öffnet, in dem handelnde Held:innen geschaffen werden, aber was ist mit dem Kind of Colour, das trans* ist? Oder of colour und trans* ist und zudem zwei Väter hat? Was wir erreichen möchten ist, dass wir für Kinder, die selbst von Diskriminierung und/oder Rassismus betroffen sind, einen Ort schaffen, an dem sie Worte und Vorbilder finden können. Gleichzeitig werden Kinder, die keine dieser Erfahrungen gemacht haben, für diese Themen sensibilisiert. Denn Wissen macht ja immer stark und handlungsfähig. Es ist also ein Gewinn für alle.
 

Was erwartet die Leser:innen?

Sarah: In erster Linie hoffentlich Spaß! Wir haben im Magazin ganz viele Mitmach-Angebote, wie zum Beispiel Ausmalbilder, Gewinnspiele, Bastelanleitungen, Rezepte und Sammelkarten. Und es ist immer Platz für die eigene Beteiligung der Kinder. Wir sind immer auf der Suche nach Kindern, die zum Beispiel Bücher oder Familienrezepte vorstellen. Darüber hinaus sind wir sehr offen für Vorschläge. Wir haben zum Beispiel ein 10-jähriges Kind, unsere Detektivin Zelal, die sich auf die Suche nach sexistischen und rassistischen Werbeinhalten begibt. Es war ihre Idee und wir fanden sie genial – da haben wir gleich eine Serie daraus gemacht.
 

Wie sollten Kinder das Magazin lesen? Mit den Eltern oder allein? Seite für Seite oder in einem durch?

Sarah: Es gibt Studien die besagen, dass bei Kinder-Zeitschriften 70 Prozent aller erwachsenen Bezugspersonen mitlesen. Das haben wir tatsächlich immer im Blick, dennoch sprechen wir gezielt die Kinder an. Wie das Magazin letztlich gelesen wird, ist für uns gar nicht entscheidend. Viel wichtiger finden wir, dass keine Fragen offen bleiben. Da kann es sicher helfen, dass erwachsene Personen noch mal etwas erklären oder auch, dass sich gegenseitig und gemeinsam mit dem Kind etwas erklärt wird.

Wir schaffen sicher kein Produkt, dass nach dem einmaligen Durchblättern in den Papiermüll wandert. Vielmehr könnten wir uns vorstellen, dass die Ausgaben einen festen Platz im Bücherregal finden und immer mal wieder hervorgeholt werden. Wir haben auch schon die Rückmeldung erhalten, dass das Magazin durchaus schon mal in der Schule bei einer Auseinandersetzung über einen rassistischen Begriff als Referenz vorgelegt wurde. Wir tragen eine große Verantwortung. Dessen sind wir uns bewusst.
 

Wie seid Ihr auf die Idee für Kinderstark gekommen?

Sarah: Wir haben nach einer Zeitschrift für unser eigenes Kind gesucht und in Deutschland keine gefunden, die vielfältig, diskriminierungskritisch und gendersensibel ist. Da haben wir gedacht, dann machen wir die selbst!
 

Macht ihr das Magazin hauptberuflich?

Anika: Wir arbeiten daran, dass wir beide hauptberuflich für das Magazin arbeiten können. Sarah hat sich als Kulturwissenschaftlerin schon im Studium und ihrer Masterarbeit mit den Geschlechterbildern in Kinderzeitschriften beschäftigt. Ich bin sowohl Schauspielerin als auch Veranstaltungskauffrau und habe viel Erfahrung in der Umsetzung und Vermarktung verschiedener Projekte. Neben eigenen Theaterinszenierungen habe ich außerdem sogar mal eine Kita mitgegründet.

Sarah: Was uns insbesondere auszeichnet ist, dass wir in den letzten Jahren gelernt haben, unsere Fähigkeiten bestmöglich zu kombinieren. Wir sind bereit, Neues zu lernen und uns Dinge einfach zuzutrauen. Wenn man sich erst mal alles zutraut, kann man ja oft auch alles. Das beinhaltet auch, dass wir aus unseren Fehlern lernen können, aber auch – und das ist mindestens genauso wichtig – aus den Fehlern Anderer.
 

Euer Magazin trägt den Untertitel "für starke Kinder". Was ist Stärke für euch?

Anika: Stärke ist für uns, sich der eigenen Fähigkeiten bewusst zu sein, aber auch zu werden. Die Erkenntnisse darüber können ja auch ein langer Weg sein. Wir haben letzte Woche an einem Online-Festival teilgenommen, da hat eine der Vortragenden gesagt, dass aus transgenerationalen Traumata auch Resilienz entstehen kann. Also auch aus traumatischen Erfahrungen kann Stärke gewonnen werden. Das ist eine tolle Botschaft und da steckt – jedenfalls für uns – sehr viel Potential drin.
 

Wie wichtig ist euch, dass Kinderstark gedruckt wird und kein Online-Produkt ist?

Sarah: Wir denken, dass der digitale Medienkonsum auch gut mal unterbrochen werden kann. Das führt ja auch zu einer Entschleunigung. Zudem haben nicht alle Kinder Zugang zu den Endgeräten. Außerdem machen wir durch unsere Angebote wie schneiden, schreiben, malen im Magazin das Papier lebendig.
 

Wie sind die ersten Reaktionen auf das Magazin?

Anika: Sehr positiv. Wir haben sehr wertschätzende und dankbare Reaktionen erhalten. Das macht uns ziemlich glücklich und es zeigt uns auch, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Viele Bezugspersonen von Kindern haben auf ein Magazin gewartet, in denen sich auch ihre Kinder wiederfinden können.
 

Wie steht ihr zu Ninjago und Prinzessin Lillifee?

Sarah: Die Ninjago-Phase hier zu Hause dauerte nur kurz und ist auch schon wieder vorbei. Wir haben damals auch Magazine von Ninjago gekauft. Dabei lag der Fokus unseres Kindes wohl auf dem Spielzeug, das es dazu gab. Der Inhalt des Magazins wurde kaum beachtet. Grundsätzlich sehen wir es aus gendersensibler Perspektive kritisch. Die Geschlechterzuschreibungen sind schon sehr offensichtlich: Prinzessin Lillifee trägt rosa und ist für die Mädchen Ninjago kommt mit Waffen um die Ecke und richtet sich wohl an Jungs. Hier werden sehr viele Klischees und Stereotype bedient und wir sind mit diesen Schubladen nicht sehr glücklich.
 

"Wir haben uns privat von den alten Klassikern verabschiedet"

Wie ist eure Meinung zur Anpassung rassistischer und in Sachen Gleichstellung kritischer Begriffe und Zusammenhänge in Kinderbuch-Klassikern?

Anika: Ein Punkt ist natürlich die Streichung der rassistischen oder diskriminierenden Begriffe, der andere Punkt ist aber, sich die Szenerie genau anzusehen. In welchem Kontext steht das Wort? Was sagt die Szene, in der das rassistische Wort fällt, denn eigentlich aus? Warum werden Geschlechterstereotype in der Geschichte reproduziert? Und lässt sich das wirklich streichen oder fällt dann die ganze Geschichte in sich zusammen? Wenn ja, dann stellt sich natürlich die Frage, ob diese Bücher noch in unsere heutige Zeit passen oder besser gesagt, ob ich als Person bereit bin, mich davon zu verabschieden und meinen Kindern etwas anderes vorzulesen? Und als Verlag? Was mache ich mit solchen Büchern? Aus dem Programm nehmen und Platz für gegenwärtige Literatur schaffen? Das wirft viele Fragen auf und ist sicher auch von schmerzhaften Prozessen begleitet. Wir für uns sind da aber ganz klar. Wir haben uns privat von den alten Klassikern verabschiedet. Im Kinderstark beschäftigen wir uns ganz bewusst mit vielfältiger, gegenwärtiger Kinderliteratur.
 

Ihr seid ein Ehepaar und Eltern eines Kindes – wie wichtig ist euch, dass euer Kind nicht nur das „klassische Familienmodell" Mutter-Vater-Kind in Büchern usw. findet?

Sarah: Für unser Kind war und ist es immer problematisch, wenn die eigene Identität, das eigene Leben und die Familienkonstellation in Büchern nicht vorkommen und umso mehr eine Freude – fast schon ein Genuss – wenn es dann doch so ist. Natürlich achten wir gezielt auf die Inhalte und schauen nach Büchern, die Vielfalt zeigen.
 

Welchen Rat habt ihr an Eltern? Wie lebe ich meinen Kindern Vielfalt vor?

Anika: Vielfältiges Spielzeug und diverse Kinderbücher können bei der vorurteilsbewussten Erziehung auf jeden Fall sehr hilfreich sein. Die Suche danach wird immer einfacher. Es gibt mittlerweile großartige Online-Shops wie zum Beispiel tebalou, trans*fabel, diversity is us und Diversity-Spielzeug. Dort gibt es handverlesenes und in bestimmte Kategorien unterteiltes Spielzeug, Puppen, Bücher, etc. Und der Blick ins Kinderstark kann sicher auch dazu beitragen. Bei uns stellen Kinder ja auch Bücher vor oder wir geben Hinweise auf Online-Shops. Darüber hinaus haben wir zum Beispiel eine großartige Autorin, Marwa Najib, die für Kinder sehr hilfreiche Beispiele und Übungen anbietet, um ihre eigenen Diskriminierungs- und/oder Rassismuserfahrungen zu benennen.
 

Wie waren eure eigenen Kindheitserfahrungen?

Sarah: In unserer Jugendzeit haben uns homosexuelle Vorbilder definitiv gefehlt. Wir fragen uns daher oft, wie unsere Kindheit und Jugend verlaufen wäre, wenn wir welche gehabt hätten. Wir sehen bei unserem eigenen Kind, wie empowernd Vorbilder und Bezugspersonen sein können und wie viel einfacher die eigene Orientierung wird. Außerdem sind wir sehr weiß sozialisiert worden. Das Bewusstsein für die eigenen Privilegien kam erst sehr viel später.
 

Was ist eure Vision? Was treibt euch an?

Anika: Wir möchten, dass alle Kinder die größtmögliche Vielfalt erleben können. Uns ist das so wichtig, weil Kinder unserer Meinung nach so die beste Version ihrer selbst werden können. Deshalb sind wir auch so gegen Schubladen, da diese die Kinder von vorherein einschränken. Wir sind der Meinung, dass die Zukunft starke Kinder braucht und starke Kinder sind Kinder, die nicht durch Diskriminierung oder Sterotype eingeschränkt und geschwächt sind. Vielfalt ist etwas Wundervolles, das uns alle bereichert und wir wünschen uns, dass noch mehr Menschen Vielfalt genießen und wertschätzen können. Denn wir werden nur eine gute Zukunft haben, wenn jedes einzelne Kind das Beste aus sich rausholen kann und wir miteinander statt gegeneinander unsere Zukunft gestalten.
 

Interview: Anna Hesse