Veröffentlicht am 3. Februar 2022
„Ich wünsche mir mehr Offenheit und Normalität“
Dank Instagram und anderen sozialen Plattformen trifft man nicht nur im echten Leben auf inspirierende Menschen, sondern kann auch digital vermeintlich nah an ihrem Leben, ihren Gedanken, ihrem Spirit teilhaben. Eine dieser beeindruckenden Persönlichkeiten, der wir folgen, ist Hülya Marquardt. Bekannt wurde sie als Gewinnerin einer Rollstuhl-Miss-Wahl. Aber sie ist viel mehr als hübsch: Auf Instagram gibt Hülya Einblicke in ihr Wirken als Mutter, Mode-Unternehmerin und Inkluenzerin. Wir sind dankbar, dass wir sie ganz offen alles fragen durften, was wir wissen wollten.

Rainbow World: Welche Behinderung hast du?
Hülya: Ich bin mit Dysmelie, also Fehlbildungen an Händen und Beinen, zur Welt gekommen. Durch mehrere Operationen im Kindesalter – die erste mit nur zwei Monaten – konnten meine Beine begradigt werden, leider lösten jedoch die damals eingesetzten Titanschrauben Jahre später eine Entzündung aus. Wegen dieser Entzündung mussten mir im Alter von 18 Jahren beide Beine an den Oberschenkeln amputiert werden. Natürlich war es ein Schock für mich beide Beine zu verlieren aber es gab keine Alternative, da die Situation lebensbedrohlich war.
Wie viel Zeit deines Lebens hast du in Krankenhäusern verbracht?
Ich kann es nicht genau sagen, aber zusammengenommen sind es auf jeden Fall Jahre.
Was hat das mit dir gemacht?
Es hat mich das Leben außerhalb von Krankenhäusern und Rehakliniken noch mehr, noch intensiver erleben und genießen lassen.
Viele Menschen ohne Behinderungen haben Berührungsängste. Wie ist deine Erfahrung?
Zu Anfang ist das schon öfter der Fall, meistens müssen sich die Leute erst mal an den Anblick gewöhnen. Nachdem sie mich jedoch kennengelernt haben, ist das normalerweise kein Thema mehr.
Gibt es auch Begegnungen, die vielleicht tiefer gehen, gerade weil Du eine sichtbare Behinderung hast, bei denen oberflächliches Blabla einfach übersprungen wird?
Ja, es passiert mir total oft, dass sich Menschen mir gegenüber schneller öffnen, von ihren Problemen und Ängsten erzählen.
Kannst du dir erklären, woran das liegt?
Häufig passiert mir das im Freibad oder im Urlaub am Strand, wenn die Leute mich im Bikini oder Badeanzug sehen. Ich bewege mich an solchen Orten meist am Boden krabbelnd fort. Es kommen dann ab und zu Frauen zu mir ans Handtuch oder an den Liegestuhl um mir mitzuteilen wie toll sie es finden, dass ich mich trotz meines verkrüppelten Körpers nicht verstecke. Sie erzählen mir dann von ihrem Gesundheitszustand und ihren Problemzonen. Ich glaube, die Menschen gehen davon aus, dass ich aufgrund meiner Situation einfach manchen Themen offener gegenüberstehe als andere.
Du bist mal im Rollstuhl, mal mit Prothesen und mal ganz ohne unterwegs – wovon hängt das ab?
Einfach vom praktischen Nutzen. Für mich sind mein Rollstuhl und meine Prothesen Hilfsmittel und nicht mehr. Ich trage sie nicht, um „normal“ auszusehen, sondern um sie für eine bestimmte Aufgabe einzusetzen. Da ich beidseitig oberschenkelamputiert bin und daher nur noch kurze Beinstumpen habe, bin ich recht flink auf den Händen laufend am Boden unterwegs. Besonders zu Hause, im Garten, im Schwimmbad und am Strand oder auf dem Spielplatz mit meinem Sohn ist dies viel geschickter als mit Rolli oder balancierend auf Prothesen, an denen er sich stoßen könnte.
Dein Sohn Rangi ist eineinhalb Jahre alt. War für dich immer klar, dass du Kinder haben möchtest? Hattest du Ängste?
Nein, das war nicht immer klar, aber mein Mann und ich sind natürlich total glücklich darüber, diese Entscheidung getroffen zu haben und freuen uns über jeden neuen Tag mit unserem kleinen Liebling. Natürlich hatten wir Bedenken, wie ein Kind zu unserem sehr aktiven Lebensstil passen würde und vor welche Hürden ich vielleicht gestellt werde als beinlose Frau und Mutter, aber wirkliche Ängste waren da nicht dabei. Wir haben uns einfach sehr gefreut und es funktioniert alles schon irgendwie. Wie immer halt (lacht).
Gab es besondere Herausforderungen für dich bei der Babyplanung, in der Schwangerschaft oder bei der Geburt?
Nein, nicht wirklich. Mein Mann und mein Schwiegervater haben unser Haus barrierefreier gestaltet. Da ich meist krabble und so überall hinkomme, war eine komplett barrierefreie Umgebung nicht nötig. Aber mit einem kleinen Kind ist es schon von Vorteil, wenn alles rollstuhlgerecht ist, weil mein Sohn oft mit mir im Rollstuhl mitfährt und ich daher nun auch mit dem Rollstuhl überall hinkommen sollte.
Hast du dir aufgrund deiner fehlenden Beine spezielle „Hülya-Hacks“ im Umgang mit deinem Sohn angeeignet?
Das nicht, aber ich bin durch ihn richtig fit geworden. Er klettert mittlerweile überall hoch und ich ihm hinterher.
Bei dem, was Du in den sozialen Netzwerken teilst, sticht vor allem Deine positive Ausstrahlung hervor. Dein Blick sagt: Mich kann nichts aufhalten! Ist das so?
Oft ist das so, ja. Aber ich habe natürlich auch meine schwachen Momente wie jede:r andere und die sollte man sich auch eingestehen. Es ist okay, auch mal traurig zu sein.
Was treibt dich an?
Einfach die Lust am Leben.
Welchen beruflichen Background hast Du, was machst Du aktuell, was willst Du noch erreichen?
Ich befinde mich gerade noch in Elternzeit. Ich bin Seminar-Managerin bei der Bildungsakademie der Handwerkskammer Region Stuttgart als und betreibe zusammen mit meiner Schwiegermutter eine Modeboutique. Besonders in der Welt der Mode wünsche ich mir noch mehr Inklusion. Ich hoffe, hier ebenfalls meinen Beitrag leisten zu können.
Wie genau sieht mehr Inklusion in der Mode für dich aus?
Inklusion in der Mode bedeutet für mich, dass eine Modeschau, eine Werbung, eine Kampagne die Gesellschaft widerspiegelt und keine, für viele nicht erreichbaren, Schönheitsideale vorgibt.
In welchen Momenten fühlst du dich als Mensch mit Behinderung benachteiligt oder diskriminiert?
Natürlich gibt es komische Blicke und manch unpassenden Kommentar, aber daran habe ich mich seit langem gewöhnt. Vielmehr sind es die physischen Barrieren des Alltags, die mich nerven, zum Beispiel ist es häufig nicht einfach, eine behindertengerechte Toilette zu finden. Gerade Bars, Restaurants und Clubs sind oft nicht barrierefrei. Mal kurz im Eiscafé oder im Bistro die Toilette benutzen, geht leider meistens nicht selbstständig und mir bleibt dann nichts übrig als mich von jemandem zur Toilette tragen zu lassen.
In welchen Situationen bist du noch auf Hilfe angewiesen?
Wenn ich mit meinem Sohn rausgehe, benötige ich Begleitung, da er mir entwischen könnte und einfach noch zu jung ist, um Gefahren richtig einschätzen zu können. Ansonsten gibt es natürlich im Alltag schon die eine oder andere Situation, bei der ich gerade auch durch meine fehlgebildeten Hände auf Hilfe angewiesen bin. Ich hatte jedoch auch nie ein Problem damit, sie anzunehmen.
Fragen zu Deiner Behinderung stellen, Hilfe anbieten – was ist für dich okay, was nicht? Welche Erfahrungen machst du?
Es ist vollkommen in Ordnung, mich etwas über meine Behinderung zu fragen oder mir Hilfe anzubieten. Die meisten Menschen sind auch sehr hilfsbereit und respektvoll.
Was wünschst du dir von der Gesellschaft?
Mehr Offenheit und Normalität im Umgang mit Menschen, die anders aussehen oder sich anders fortbewegen. Und auch in Sachen Barrierefreiheit gibt es noch Einiges zu tun, insbesondere was Toiletten in der Gastronomie angeht.
In deinem Instagram-Feed findet man ein Foto von der kleinen Hand deines Sohnes auf deiner Hand, darunter ein Zitat von Maya Angelou „It is time for parents to teach young people early on that in diversity there is beauty and there is strength“. Welche Bedeutung hat dieses Zitat für dich und was gibst du an deinen Sohn weiter?
Ich möchte, dass mein Sohn die Stärke und Schönheit, die eine vielfältige Gesellschaft zu bieten hat, kennen und schätzen lernt.
Interview: Anna Hesse