Veröffentlicht am 14. September 2021

Die Berührerin

INTERVIEW

Milka Reich arbeitet in Berlin als Berührerin. Zu Ihren Klient:innen gehören Einsame, Ängstliche, Alte, Kranke, Behinderte, aber auch Neugierige. Mit uns hat sie ganz offen über ihren Beruf gesprochen, der sich in keine Schublade stecken lässt. Beeindruckt hat uns vor allem ihre Fähigkeit, offen auf das Leben und Menschen zuzugehen – und ihre Fähigkeit, eigene Vorstellungen und Grenzen immer wieder zu hinterfragen und anzupassen. Im Gespräch mit ihr spürt man, dass Milka ganz bei sich ist, im positivsten Sinne. Vielleicht fühlen sich die Menschen, die zu ihr kommen, auch deshalb so wohl mit ihr.  

Zwei Hände mit Prisma-Lichteinfall

Rainbow World: Was sind das für Menschen, die Deine Nähe suchen?

Milka: Meist Menschen, denen aus den unterschiedlichsten Gründen Berührungen fehlen. Aber auch diejenigen, die Angst vor körperlicher Nähe oder Schwierigkeiten beim Sex haben und dem auf den Grund gehen möchten. Und es kommen Menschen, die in Beziehungen sind und Probleme haben. Manchmal sprechen wir dann auch einfach nur über Themen wie Kontakt und Sex, ohne dass mehr passiert. Und für einige ist der Besuch bei mir auch eine sich besser anfühlende Alternative zum Seitensprung. Wer zu mir kommt, tut etwas nur für sich. Das verändert manchmal schon ganz viel – in der Selbstwahrnehmung, aber auch im Zusammenspiel mit anderen.

Seit wann übst du deinen Beruf aus?

2001 habe ich damit angefangen, mich langsam an das Thema herangetastet. Ich habe Freund:innen und Bekannte massiert und mich selbst auch professionell massieren lassen. So habe ich ausprobiert, worauf ich überhaupt Lust habe und was ich machen möchte. Später habe ich dann Anzeigen geschaltet.

Wo hast Du diese Anzeigen geschaltet?

In Zeitungen unter der Rubrik „erotische Massagen“. Auch wenn es das nicht so ganz trifft und missverständlich ist. Beim „Tagesspiegel“ habe ich mal angeregt, die Sparte „Berührungen“ einzuführen, hat aber leider nicht geklappt. Dafür ist das Schubladendenken zu eingefahren. Meine Massagen sind oft erotisch, ja. Aber nicht immer. Kann auch ganz anders laufen.

Wie bist Du darauf gekommen, Berührerin zu werden?

Ich wusste anfangs nicht, wohin die Reise geht, habe viel von den Menschen abhängig gemacht, die zu mir kamen. Mich immer wieder gefragt, ist das okay für mich, wir fühlt sich das an. Als mich die erste Anfrage eines Mannes mit einer Behinderung erreichte, war ich gar nicht darauf vorbereitet und habe ich mich gefragt: Schließe ich Menschen mit Behinderungen aus oder schließe ich sie nicht aus? Für mich war schnell klar: Natürlich nicht. Oder auch als die erste Frau zu mir kam. Den Weg zu dem, wie ich meinen Beruf heute ausübe, haben mir eigentlich meine Klient:innen aufgezeigt.

Wir gehen davon aus, dass mehr Männer als Frauen zu Dir kommen...

Das stimmt. Es sind etwa 80 Prozent Männer.

Woran liegt das Deiner Ansicht nach?

Frauen wünschen sich meist für Sex mehr Vertrauen, möchten die Person besser kennen, schauen sich lieber im Bekanntenkreis um. Bei vielen Frauen würde dann vielleicht auch der Gedanke aufkommen „Oh Gott, ich genüge niemandem und muss mir Nähe kaufen“. Die meisten Männer sind da ganz anders. Eher unkompliziert. „Ach, dann kaufe ich mir mal Zuwendung.“ Die probieren das einfach mal aus. Sind spontaner und unbedarfter.

Wie kann man sich eine Sitzung bei Dir vorstellen?

Der Erstkontakt läuft über Telefon und wenn es da stimmt, machen wir einen Termin aus. Dann kommt der Mensch hier rein und wir sprechen erst einmal – das kann ganz kurz sein oder auch eine halbe Stunde. Wenn die/der Klient:in möchte, kann sie/er sich dann auf meine Matte legen, angezogen oder nackt. Es sagt ja schon viel aus, wie viel jemand dann ausziehen möchte oder wie sich jemand hinlegt. Musik – ja oder nein? Öl – ja oder nein? Ich nehme dann körperlichen Kontakt auf, lege meine Hände auf den Körper und weiß erst mal nicht genau, wohin die Reise geht. Das zeigt sich erst auf dem gemeinsamen Weg, durch die physische Kommunikation.

Wie teuer ist ein Besuch bei Dir?

200 Euro für zwei Stunden. Mit dem vergleichsweise hohen Preis grenze ich mich auch von schnellem Bezahlsex ab. Meine Klient:innen bekommen meine ungeteilte Aufmerksamkeit, eine Zuwendung, die von meiner Seite sehr speziell ist und die auch honoriert werden muss.

Welche Grenzen setzt Du?

Das Thema Grenzen setzen ist spannend. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass meine Grenzen – wenn ich sie nicht klar und deutlich definiere – sofort übertreten werden, weil sie nicht gesehen werden. Klar sein ist also wichtig. Und für mich außerdem, Grenzen immer mal wieder zu hinterfragen und gegebenenfalls zu verschieben.

Dürfen Deine Klient:Innen Dich auch anfassen?

Manchmal kommen Hände auf mich zu. Wenn ich das nicht will, lege ich sie auf die Matte und wenn diese Signale nicht verstanden werden, sage ich es. Ich möchte eigentlich lieber gefragt werden, bevor ich einfach angefasst werde. Ob ich das möchte oder nicht, lässt sich nicht pauschal beantworten. Manchmal lege ich selbst die Hände meiner Klient:innen auf meinen Körper, wenn ich spüre, dass wir sonst nicht so recht in Kontakt bleiben können. Es kommt ganz auf die Situation an. Wenn ich zum Beispiel mit einem Menschen mit einer geistigen Behinderung zusammen bin, der noch nie einen Busen angefasst hat und das gerne mal möchte, habe ich dafür natürlich Verständnis und dann kann es sein, dass ich das zulasse.

Ganz direkt gefragt: Hast Du auch Sex mit Deinen Kund:innen?

Für mich gehört der Genitalbereich zum Körper dazu, deshalb spare ich ihn nicht aus. Wenn meine Klient:innen einen Orgasmus brauchen, um ein gutes Körpererlebnis bei mir zu haben, dann verhelfe ich ihnen auch dazu, wenn es passt. Sex im Sinne von Geschlechtsverkehr habe ich mit meinen Klient:innen eigentlich nicht. Aber auch das ist schon vorgekommen.

Und wie sieht es mit Verlieben aus?

Es haben sich auch schon Klient:innen in mich verliebt – und ich selbst habe mich in all den Jahren auch dreimal richtig doll verliebt. Da habe ich dann schnell geklärt, dass wir so nicht mehr Berührerin und Klient:in sein können, sondern das auf der privaten Ebene klären müssen.

Bist Du in einer Beziehung? Welche Rolle spielt Eifersucht?

Mein Partner ist leider vor zwei Jahren verstorben. Aber es war auf jeden Fall so, dass mein Beruf unsere Beziehung immer super-lebendig gehalten hat. Wenn ich mich dann mal verliebt hatte, habe ich es auch erzählt. Und Eifersucht war natürlich auch Thema. Aber mein Partner hat mich immer unterstützt, weil er gemerkt hat, wie sehr mir dieser Beruf entspricht und was er mir alles gibt. Das war schon sehr besonders und ich bin voller Ehrfurcht und Dankbarkeit, dass er mich da so begleitet hat.

Stichwort Berührungsarmut: Glaubst Du, dass es Menschen krank machen kann, wenn sie nicht berührt werden?

Ja, das wirkt sich psychisch und physisch aus. Dazu gibt es ja auch jede Menge wissenschaftliche Erkenntnisse. Wer meiner Meinung nach am besten darüber geschrieben hat ist der Haptik-Professor Martin Grunwald. Wer das Thema Berührungen spannend findet, sollte unbedingt sein Buch „Homo Hapticus“ lesen. Darin ist ganz toll beschrieben, was biologisch passiert, wenn man berührt wird. Es wird zum Beispiel Oxytocin ausgeschüttet, das echtes Wohlbefinden auslöst, gesund hält und auch heilt. Und psychisch brauchen wir als soziale Wesen Berührungen sowieso. Sie sind elementar wichtig. Das sieht man vor allem, wenn sie fehlen.

Schwarz-Weiß-Aufnahme von zwei Händen

Welche Auswirkungen haben Ausnahmesituationen wie die Corona-Pandemie, in denen möglichst auf Kontakt verzichtet werden soll?

Verheerende. Ich werde häufiger in Heime gerufen. Es ist die reinste Katastrophe, was ich da gesehen habe. Wie isoliert die alten und kranken Menschen dort leben und höchstens Kontakt zu Menschen haben, die in voller Desinfektionsmontur zu ihnen ins Zimmer kommen. Es ist zum Schreien.

Wer genau ruft Dich denn in die Heime?

Meistens die Angehörigen oder das Personal. Häufig sind es schwierige Fälle. Zum Beispiel Demenzkranke, die das Personal angrabbeln oder andere Bewohner:innen verfolgen. In der Demenz kommen Sachen hoch, die für das Umfeld manchmal schwer zu händeln sind. Mit den Betroffenen selbst kann man häufig auch nicht mehr normal reden. Da kann auch ich nicht immer etwas ausrichten. Aber wenn die Demenz noch nicht zu weit fortgeschritten ist, kann ich mit den Menschen in einen Prozess gehen, so dass sie ihre Sehnsüchte und Bedürfnisse möglichst in die Stunden packen, in denen ich da bin. Dann sind sie ruhiger und besser drauf. Allerdings muss ich mir auch immer die Menschen vornehmen, die drumherum sind. Denn es nützt nichts, wenn ich hin und wieder auftauche, aber der restliche Kontext nicht stimmt. So einfache Dinge wie über den Arm zu streichen, die Menschen im Alltag mal kurz in den Arm nehmen oder eine kleine Massage geben, können einen riesigen Unterschied machen. Nur leider sind solche Dinge in Heimen kaum möglich, weil das Pflegepersonal dafür schlichtweg keine Zeit hat. Da passieren nur pflegerische Berührungen: waschen, anziehen, zackzack. Das ist wirklich schlimm.

Wenn Du mit Demenzkranken oder auch Menschen mit Behinderungen arbeitest, die nicht eindeutig artikulieren können – wie kannst Du dann zweifelsfrei sicher sein, dass Deine Berührungen wirklich erwünscht sind?

Ich muss mich dann komplett aufs Spüren verlassen und gucken, ob da irgendwelche Reaktionen kommen. Es gibt nicht nur die Sprache, sondern auch rein körperliche Kommunikation. Man merkt zum Beispiel auch am Atem, ob sich jemand aufregt oder entspannt. Und ich kann meinen Klient:innen auch berührend Fragen stellen. Das sind dann Berührungen, die nicht gleich etwas machen, sondern vielmehr fragen, wohin die Reise gehen kann. Da muss man gut auf die körperlichen Signale horchen, um auf keinen Fall übergriffig zu sein.

Du bist Synästhetikerin, das heißt Du hast ganz besondere Antennen dafür, was andere fühlen – hilft Dir das bei Deiner Arbeit?

Ja, total! Wenn ich eine Berührung sehe, fühle ich sie direkt. Um es mal anschaulich zu machen: Wenn ich ein Paar sehe, dass sich küsst, dann ist es fast so als wäre ich mittendrin als nur daneben. Das kann wahnsinnig anstrengend sein – zum Beispiel wenn ich in der vollen U-Bahn fahre. Bei meiner Arbeit jedoch helfen mir meine feinen Antennen für die Wahrnehmung natürlich enorm dabei, die für meine Klient:innen richtigen Berührungen zu finden.

Welche Lösung gibt es in Deinen Augen für die Berührungsarmut in Heimen?

„Jedes Heim, in dem alte Menschen wohnen, sollte eine/n Berührungsbeauftragte/n haben – mit Büro und Kuschel- und Massageraum. Toll wären auch Wohnprojekte für Alt und Jung nach holländischem Vorbild, in denen junge Leute kostenlos wohnen und dafür mindestens 30 Stunden im Monat mit den älteren Menschen verbringen – eine tolle Idee für beide Seiten, die viele Probleme lösen würde. Ich weiß nicht, warum Deutschland in solchen Dingen so langsam ist.“

Gibt es Begegnungen, die Dich persönlich besonders berühren?

Ja, auf jeden Fall. Zum Beispiel als mir ein Mann seinen über 80-jährigen Vater geschickt hat. Die Begegnung mit diesem Klienten war so berührend, dass ich sie nie vergessen werde. Sein Thema war, dass er überhaupt nicht mehr als Mann wahrgenommen wurde und sich auch selbst nicht mehr so gespürt hat. Er war einfach nur noch der Opa. Das geht vielen älteren und auch Menschen mit Behinderungen so, dass ihre sexuelle Identität einfach hinten runter fällt. Und während des Besuchs bei mir hat sich dieser Mensch tatsächlich um 180 Grad gedreht. Er weinte schon als ich ihn liebevoll mit einer Decke zudeckte. Es war eine Art von Zuwendung, die er lange vermisst hatte. Und vom Weinen kam er zur Lust und am Ende wieder zum Mannsein. Und diese ganze Entwicklung in nur zwei Stunden. Das war wirklich eine unglaubliche Erfahrung, für die ich auch dankbar bin. Ein solches Einlassen erfordert natürlich eine Menge Mut – und davon hatte er ganz viel. Phänomenal!

Was ist der Unterschied zwischen einer Berührerin und einer Prostituierten?

Die sexuelle Befriedigung steht bei mir nicht im Vordergrund. Ein Orgasmus kann vorkommen, ist aber nicht das Hauptziel. Aber auch wenn man gar keinen Sex hatte, fühlt es sich hinterher ganz oft trotzdem so ähnlich an...

Interview: Anna Hesse

Foto von Milka Reich
Milka Reich

Milka Reich, geboren 1965, lebt und arbeitet in Berlin. Sie ist verwitwet, hat zwei Töchter. Sie hat ein Sachbuch geschrieben: „Umarme dich selbst“, Bastei Lübbe, 8 Euro. Ein zweites über Nähe und Abstand ist in Planung.  

www.die-beruehrerin.de